Absturzkünstler

Nach dem Ende der Dotcom-Ära steckt auch die Internet-Kunst tief in der Krise

Von Tilman Baumgärtel

 

 

Heath Bunting überschreitet Grenzen, und das im wörtlichen Sinne. Seit einem Jahr passiert der britische Künstler die innereuropäischen Grenzen ohne Genehmigung und ohne Papiere. Über unwegsame Bergpässe und durch menschenleere Wälder hat Bunting bereits die grüne Grenze von der Tschechischen Republik nach Deutschland oder von Spanien nach Frankreich überschritten. Als Nächstes will er durch den TGV- Tunnel von England nach Frankreich wandern. Für den Künstler ist die Aktion Border Xing ein Ausdruck des Protestes gegen das rigide Grenzreglement in Europa, das nach dem Schengener Abkommen Nichteuropäern die ungehinderte Reise innerhalb der EU erschwert.

Seine Grenzgänge dokumentiert der Künstler mit Karten, Fotos und Tagebucheintragungen, die er im Internet veröffentlicht. Allerdings kann nicht jeder Websurfer auf diese Seiten zugreifen. Wer sehen will, wo und wie Bunting illegal über die Grenze von einem europäischen Land in ein anderes gelangt, muss sich selbst in Bewegung setzten. Auf seiner Website hat er öffentlich zugängliche Computer in Internet-Cafés, Museen und Medienlaboren aufgelistet, über die man seine Arbeit betrachten kann. Nur dort, sonst nirgends.

Ein Künstler, der seit 1994 mit dem Internet arbeitet, gibt so plötzlich einen der zentralen Vorteile dieses Mediums auf: dass die Arbeiten, die er online produziert hat, jederzeit und überall von jedem vernetzten Computer aus zugänglich sind. Natürlich, Bunting will sich vor rechtlichen Problemen wegen seiner unerlaubten Grenzübertritte schützen. Aber seine neue Arbeit ist auch Zeichen einer Desillusionierung: Er ist enttäuscht von den Möglichkeiten, die das Internet bildenden Künstlern bietet. Und er ist nicht der Einzige, der dem Netz als künstlerischem Medium inzwischen skeptisch gegenübersteht. Auch um andere Künstler, die zusammen mit ihm ihre Karriere im Internet gestartet haben, ist es still geworden.

Dabei ist es noch nicht lange her, dass das Internet als einer der interessantesten Spielplätze der zeitgenössischen Kunst galt. Mitte der neunziger Jahre, als das Netz zum ersten Mal für Benutzer ausserhalb von Militär und Universitäten zugänglich wurde, löste es eine Explosion der Kreativität aus: Das neue Medium wurde von Künstlern mit Begeisterung angenommen. Von 1994 an entstanden erste Arbeiten, die die spezifischen Eigenschaften des Internet ausloteten. Das belgisch-holländische Duo Jodi schuf chaotisch-abstrakte Webpages, die bei vielen Benutzern grosse Angst vor Computercrashs auslösten. Ihre Website www.jodi.org, die wie der Albtraum eines professionellen Internet-Gestalters aussieht, nutzt gefundene Bilder und Codes aus dem Internet als Rohmaterial für flackernde, über den Bildschirm springende digitale Collagen. Der New Yorker Mark Napier entwickelte einen Shredder, der beliebige Websites zu Datenschrott verarbeitete: Bildchen und Text werden in einen wüsten Wirrwarr zerlegt. Und der amerikanische Künstler Ken Goldberg legte einen Garten an, in dem man über das Internet Blumen pflanzen und giessen konnte: Tausende von Internet-Usern haben seither zum Blühen und Gedeihen des Tele- Garden beigetragen.

Das Genre Netzkunst, das nie ein Genre sein wollte, umfasste auch Arbeiten, die mehr mit den Happenings und der Aktionskunst der sechziger und siebziger Jahre zu tun hatten. Der Schweizer Künstlergruppe etoy gelang es bei ihrer Aktion Digital Highjack, die Benutzer von Suchmaschinen auf ihre Website zu entführen. Wer bei populären Suchmaschinen nach Worten wie «Madonna» oder «Mercedes» suchte und auf einen von den Künstlern eingeschmuggelten Link klickte, fand sich plötzlich bei www.highjack.org wieder, wo der verdutzte Surfer mit «Donąt fucking move! This is a digital highjack!» begrüsst wurde und seine liebe Not hatte, wieder von der Seite herunterzukommen. Als der amerikanische Spielzeugversand Etoys die Künstlergruppe wegen angeblicher Namensrechtsverletzung verklagte, mobilisierte sie ihre Internet-Fans, die das Unternehmen mit E-Mails so lange unter Druck setzten, bis die Aktienkurse der Firma zu sinken begannen.

Ein Label für die vielfältigen künstlerischen Umtriebe im Netz war schnell gefunden: net.art - das sollte wie ein Dateiname klingen, nicht wie eine neue Kunstrichtung. Denn das Internet machte für seine künstlerischen User einen lange gehegten Traum vieler Künstler des 20. Jahrhunderts wahr. Es erlaubte ihnen Unabhängigkeit vom verhassten Kunstbetrieb, von den Museen und Galerien, von den Kunstvermittlern, die sich zwischen ihre Arbeit und das Publikum drängen. Wie viele modernistische Künstler seit Marcel Duchamp reizte es die Netzkünstler, ein Verwirrspiel zwischen den Polen Kunst und Nichtkunst zu veranstalten. «Kunst findet immer an einem physischen Ort statt», sagte der russische Künstler Alexej Schulgin 1997, «beim Netz ist der physischen Raum nicht wichtig. Alles passiert nur auf dem Computermonitor, und es ist egal, von wo die Daten kommen. Darum sind die Leute verwirrt, weil sie nicht wissen, was sie von den Daten halten sollen, die sie bekommen. Ist das nun Kunst oder nicht? Sie wollen wissen, in welchem Kontext die Arbeit steht, weil sie ihren eigenen Augen nicht trauen.»

 

Verloren in den Weiten des Netzes

Doch während in der Szene Ende der neunziger Jahre fast wöchentlich E-Mails mit den Internet-Adressen neuer, interessanter Projekte kursierten, haben die künstlerischen Online-Aktivitäten in der letzten Zeit spürbar nachgelassen. Fast wirkt es so, als würden die Eigenschaften, die das Internet für Künstler interessant gemacht haben, nun gegen sie arbeiten: Im täglich unübersichtlicher werdenden Netz sind die Kunstprojekte in den Datenmassen schlicht untergegangen.

Als das World Wide Web noch aus einigen hundert Websites bestand, waren die ersten Online-Werke von Künstlern eine besondere Sehenswürdigkeit. In den frühen Tagen des Internet lieferten Websites mit Namen wie What is hot? oder Cool Site of the Day Orientierung im ständig expandierenden Netz. Sie machten die Surfer nicht nur auf besonders neurotische, private Homepages aufmerksam oder auf Webcams, die Bilder von Aquarien verbreiteten - sie konfrontierten die Internet-Freunde oft auch spontan mit moderner Kunst. So erfüllten sie nebenher auch einen Traum der Moderne: nämlich den Kontakt zwischen Kunst und ihrem Publikum unter Umgehung von vermittelnden Instanzen herzustellen.

Im einem Netz, das ins Unermessliche gewachsen ist, fehlen heute die Instanzen, die interessierte Surfer zu Kunst-Websites führen. Und während in den USA Kunstinstitutionen wie das Whitney Museum, das San Francisco Museum of Modern Art oder das New Yorker New Museum mittlerweile erste Präsentationen von Internet- und Software-Arbeiten ausgerichtet haben, hat sich nach der grossen Ausstellung net_condition am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie kein anderes Kunstmuseum in Deutschland an Netzkunst gewagt. Bei der documenta 1997 hatte Kuratorin Catherine David einen eigenen Raum mit Netzkunst eingerichtet. Bei der diesjährigen Documenta waren dagegen nur zwei Arbeiten zu sehen, die sich mit dem Internet befassten, obwohl das Netz zu den zentralen Motoren der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung gehört, mit der sich die Documenta beschäftigen wollte.

Dass die Kunstszene kaum auf Netz- und Computerkunst setzt, mag zum Teil an einer technophoben Grundhaltung des Kunst-Establishments liegen, die auch die Videokunst über zwanzig Jahre in eine Aussenseiterposition gezwungen hat, bevor Video in den neunziger Jahren seinen Siegeszug antreten konnte. Es mag auch an den nicht unbeträchtlichen Problemen liegen, mit denen man konfrontiert ist, wenn man Netzkunst im physischen Raum zeigen will. Saskia Bos, die Kuratorin der BerlinBiennale 2001, gab zum Beispiel in einem Interview zu Protokoll: «Es gibt bei der Biennale keine dieser komplizierten Internetprojekte - es macht einfach keinen Sinn, mit einer Maus in der Hand im Raum herumzustehen oder in einer Schlange vor dem Bildschirm zu warten.» Solche Argumente könnte man freilich auch gegen viele Performances, Installationen und Aktionen ins Feld führen, die ebenfalls nicht den Anforderungen einer traditionellen Kunstpräsentation entsprechen. Indem sie die Netzkunst ignorieren, verstellen sich die Museen und Ausstellungen allerdings die Chance, Arbeiten zu zeigen, die sich mit der zunehmenden Computerisierung und Vernetzung unserer Gesellschaft aus der Binnenperspektive beschäftigen.

 

Was nichts kostet, ist nichts wert

So sind die Künstler, die mit dem Internet arbeiten, als Präsentationsplattform auf Festivals für Medienkunst wie die Transmediale in Berlin oder die Ars Electronica in Linz angewiesen. Diese Präsentationen ziehen zum Teil zwar durchaus ein grosses Publikum an. Doch das «Medienfestival-Ghetto», wie es viele Insider nennen, beschränkt die Auseinandersetzung mit Internet-Kunst oft auf ein zirkelhaftes Fachpublikum.

Der Crash des Internet-Marktes seit 1999 dürfte seinen Teil zum derzeit fehlenden Interesse an Netzkunst beigetragen haben: Obwohl die Internet-Künstler den Auswüchsen der New Economy kritisch bis ablehnend gegenüberstanden, werden sie nun zu Opfern des Backlashs gegen das Internet in den letzten drei Jahren. Zudem hat sich der Kunstmarkt nie besonders für die Netzkunst erwärmen können: Weil noch niemand ein funktionierendes Geschäftsmodell für den Handel mit der immateriellen Internet-Kunst gefunden hat, haben die kommerziellen Galerien gegenüber der digitalen Kunst immer eine vornehme Zurückhaltung bewahrt.

Gerade jene genuinen Eigenschaften des Internet, die einst viele Kreative anlockten, werden der Netzkunst nun zum Verhängnis. Die Künstler verfügen mit dem Internet zwar über ein ideales Instrument zur Distribution ihrer Arbeit. Doch diese autonome Infrastruktur fern der sonstigen Kunstszene schadet inzwischen paradoxerweise ihrer Weiterverbreitung. In einer kleinen, selbst organisierten Szene von Spezialisten werden Netzkunst-Arbeiten zwar durchaus goutiert und diskutiert. Aber alle, die nicht zu den Spezialisten gehören, diskutierten und goutieren nicht mit. So bleibt man unter sich, und die Netzkunst wird von der Debatte über zeitgenössische Kunst schlicht übergangen.

Inzwischen ist sich darum zum Beispiel der slowenische Netzkünstler Vuk Cosic sicher: «Auch wenn wir früher das Gegenteil behauptet haben, glaube ich heute, dass die Kunstwelt unser vorbestimmtes Ziel ist», sagt er und nennt eine Reihe von Museen, die mit ihm zusammenarbeiten wollen. Wenn die traditionelle Kunstszene nun doch noch die Netzkunst entdecken sollte, hätte sie einmal mehr ihre Integrationsfähigkeit bewiesen: Von Dada über Fluxus, Performance, Happening bis hin zu Video und Kontextkunst ist es ihr noch immer gelungen, Kunstrichtungen, die mit der Rhetorik von der Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst angetreten sind, schliesslich wieder ins Museum einzugemeinden.

Und sollte das nicht geschehen? Dann wäre die Netzkunst jene Kunstrichtung gewesen, die kapitulieren musste, weil sie die zentralen Forderungen der Moderne mustergültig erfüllte: die «Dematerialisierung des Kunstobjekts» (Lucy Lippard), die vollkommene Unabhängigkeit vom Kunstbetrieb und die Verbindung von Kunst und Leben. Dann würden die Blumen im Tele-Garden von Ken Goldberg verdorren, unzählige Megabytes der Daten, die von Künstlerhänden auf Internet-Computern in der ganzen Welt geladen wurden, würden unbeachtet vertrocknen. Die Netzkunst wäre an ihren ureigenen Qualitäten gescheitert.

 

 

 

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