Innovative Amateure an den Schnittstellen von Kunst und Medien

Von Tilman Baumgärtel

 

 

Ein Email-Dialog mit dem Kunsthistoriker Dieter Daniels über sein Buch «Kunst als Sendung»

 

Nichts weniger als die «intensive Wechselwirkungen zwischen Kunst- und Mediengeschichte von der Französischen Revolution bis heute» will der Leipziger Kunsthistoriker Dieter Daniels [1] in seinem neuen Buch Kunst als Sendung [2] aufzeigen. Daniels ist einer der wenigen deutschen Kunstgeschichtler, die sich auch mit Medienkunst beschäftigen. Er hat unter anderem 1994 die «Medien-Biennale» in einer leerstehenden Fabrik in Leipzig organisiert und zusammen mit Rudolf Frieling die beiden Materialbände «Medien Kunst Aktion, Die 60er und 70er Jahre in Deutschland» und «Medien Kunst Interaktion, Die 80er und 90er Jahre in Deutschland» herausgegeben. Ausserdem hat er zu Fluxus und Duchamp veröffentlicht und Ausstellungen organisiert, und leitet den Aufbau des Internetportals Medienkunstnetz [3].

Wie sein Buch «Duchamp und die anderen» ist auch «Kunst als Sendung» materialreich und hervorragend recherchiert eine in Deutschland im Bereich der Medientheorie etwas in Vergessenheit geratene akademische Tugend. In einem furiosen Querfeldein-Zug spannt Daniels den Bogen von den frühen Radioamateuren in den USA bis zur Entstehung des Internet, von den weltumfassenden Visionen der Futuristen und Suprematisten bis zur Medienkunst der Gegenwart. Und in einer weder in der Medientheorie noch in der Kunstgeschichte häufigen Volte verbindet er technologische Entwicklungen mit Kunsthistorie und sozialen Praxen, die sich um bestimmte Technologien wie Radio oder Computer ranken. Viele dieser Bezüge sind unter Medienaktivisten bekannt oder in englischsprachiger Literatur ausführlich behandelt worden, doch Daniels macht sie nun auch im deutschsprachigen Raum und für den akademischen kunst- und medienwissenschaftlichen Diskurs zugänglich. So präzise diese Analysen im Einzelfall auch sind, ergeben sich im Zug durch mehr als zwei Jahrhunderte auch Fragen danach, wie verallgemeinerbar einige von Daniels Thesen sind. Diese Fragen sind Gegenstand des folgenden Email-Dialogs.

In Ihrem Buch «Kunst als Sendung» wollen Sie zeigen, wie seit der französischen Revolution die Künste technische Entwicklungen der Moderne anregten oder vorwegnahmen. Im 19. Jahrhundert führen Sie für diese These zwei Menschen an: Samuel Morse, den Erfinder der Telegrafie, und Daguerre, den Erfinder der Fotografie. Moorse war als Maler eher erfolglos, bevor er sich der Technik zuwandte, Daguerre war ein Theatermaler, der für innovative «special effects» bekannt war, und betrieb Dioramen, bevor er die Fotografie erfand. Beide sind nicht gerade in den Kanon der Hohen Kunst eingegangen. Ist es nicht etwas kühn, diese beiden Figuren als stellvertretend für DIE Kunst des 19. Jahrhunderts zu nehmen?

Dieter Daniels: Morse und Daguerre sind typische Fälle für eine Krise des künstlerischen Selbstbewusstseins an der Schwelle zur Moderne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Krise wird u.a. durch den Fortschritt der Technik ausgelöst, welcher die Kunst nicht mehr als Krönung der menschlichen Schöpfung erscheinen lässt. Die Erfüllung der grossen persönlichen Ambitionen von Morse und Daguerre bleibt ihnen in der Kunst versagt. Jedoch durch einen radikalen Berufswechsel erreichen sie schliesslich als Erfinder statt als Künstler unsterblichen Ruhm. Damit sind sie durchaus stellvertretend für DIE Kunst des 19. Jahrhunderts in ihrem Konflikt mit der entstehenden Medientechnik und ebenso für den neuen Genie-Status des Erfinders als Konkurrent des Künstlers.

Zugleich zeigt ihre individuelle Biografie, dass ganze ähnliche Motive hinter ihrer Kunst und ihren Medienerfindungen stehen. Dies hat aber noch nichts mit der Vorwegnahme von technischen Entwicklungen durch die künstlerische Moderne zu tun, diese wird erst in späteren Kapiteln zum Thema, etwa im Vergleich von Edisons Erfindung des Fonografen und Villers SF-Roman. Doch Morse und Daguerre sind erste Beispiele für den Prozess der Substitution von Kunst durch Medien, der bis heute unvermindert anhält zum Beispiel wenn der Netzkünstler Vuk Cosic in einem Interview mit Ihnen sagt: «Art was only a substitute for the Internet.»

 

Die Amateure lösen einen Umbruch aus

Trotzdem kommt in diesem Teil des Buches ausser Manet kein einziger Künstler vor, der zum Kanon der Kunst des 19. Jahrhunderts gehört. Dass Daguerre und Morse ihre künstlerischen Ambitionen durch ihre Erfindungen erfüllt haben, stimmt nur, wenn man annimmt, dass ihr Ziel weltweiter Ruhm gewesen sei (und schon bei Morse habe ich Zweifel, ob heute noch jemand weiss, wer das war...) Aber wenn man als Motive für Kunstproduktion zum Beispiel die Erhebung und Erbauung des Menschen, kritische Reflexion über unsere Umwelt, Kontakt mit dem Sublimen oder ähnliches nimmt, glaube ich nicht, dass Ihre These noch aufgeht. Das leisten Telegrafie oder Fotografie nämlich nicht.

Dieter Daniels: Um einen Kanon der Kunst geht es in diesem Buch ganz bestimmt nicht. Ich finde den Begriff des Kanons ohnehin reaktionär, dies zeigen die aktuellen Debatten im Bereich Literatur. Statt dessen geht es mir um die Sichtbarmachung von bisher ignorierten Schnittstellen zwischen Kunst und Medien, schon lange vor aller Medienkunst. Als Methode dazu dienen verschiedene Begegnungs-Szenarios: Museum/Telegrafie als zwei gesellschaftliche Utopien im Kontext der französischen Revolution; Telegrafie/Fotografie als Substition von Kunst auf der personalisierten Ebene bei Morse/Daguerre; Fonograf/Roman als Konkurrenz von Technik/Dichtung um die Imagination bei Edison und Villiers; Fernsehen als Apparat/Utopie bei Nipkow / Robida usw.

Dabei zeigt sich, dass in den technischen Inventionen und Imaginationen ebenso allgemein gesellschaftliche wie zutiefst persönliche und eben auch para-religiöse Motive stecken, wie wir sie bei Kunst erwarten und erhoffen. «What hath god wrought!» - «Was hat Gott bewirkt!», lautet das Bibelzitat, das Morse zur Einweihung seiner ersten Telegrafenlinie dient. Und im weltweit ersten Text über die Fotografie schreibt der Kunstkritiker Jules Janin: «Es gibt in der Bibel die schöne Stelle: 'Gott sprach: es werde Licht, und es war Licht.' Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: 'Werdet Bild!' Und die Türme gehorchen.»

Mit dem Kanon ist es so eine Sache: Alle lehnen ihn ab, aber jeder hat ihn auch im Hinterkopf. Und wundert sich, wenn generalisierende Aussagen darüber gemacht werden, dass die Kunst Entwicklungen in den Medien antizipiert hat, aber als Beispiele dafür eher randständige Künstler wie Villiers oder Daguerre genannt werden. Dass es in punkto Motivation der Schöpfer in Kunst und Medienentwicklung Parallelen gibt, mag ja sein, aber ich glaube nicht, dass das ein spezifisch modernes Phänomen ist. Und «zutiefst persönliche und eben auch para-religiöse Motive» erwarte ich von der Kunst überhaupt nicht; eher Anregung und eine kritische Perspektive auf die Gegenwart...

Also ich glaube, zwischen uns gibt es ein Missverständnis zur Methode: Sie verlangen einen repräsentativen Überblick, um eine allgemeine These zu begründen. Soweit ist die Wissenschaft aber auf diesem Gebiet der Interferenz von Kunst und Medien noch nicht. Ich liefere im ersten Teil Stichproben und Fallstudien von 1795 bis ca. 1925, im zweiten Teil versuche ich darauf basierende Theoriemodelle zu skizzieren. In beiden Teilen geht es darum, den Status von Kunst gegen einen einseitigen Technikdeterminismus zu verteidigen und die Wirkungsmacht des Ästhetischen (inner- und ausserhalb der Kunst) wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen. Deshalb kann das Buch nicht auch noch ein «Who is who» von zweihundert Jahren Kunstgeschichte liefern. Es enthält aber einen ziemlich kompletten Abriss der Geschichte der Telemedien.

Im 19. Jahrhundert beginnt es mit symptomatischen Einzelfällen (übrigens nicht nur aus der bildenden Kunst, sondern mit Baudelaire, Villiers, Verne u.a. auch aus der Literatur), mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitert sich die Basis zu einem transdisziplinären Kunstbegriff, der von der Poesie des Futurismus bis zur Farbkomposition von Delaunay reicht, und heute könnte man vermutlich in fast allen Bereichen der kulturellen Produktion eine solche enge Wechselwirkung mit den medientechnischen Rahmenbedingungen feststellen. Ein am Kanon orientierter Kunstbegriff klebt immer an den Personen und bleibt deshalb blind gegenüber den übergreifenden Entwicklungen, nur diese haben aber noch eine Wirkungskraft auf das sogenannte echte Leben. Deshalb kein «Namedropping» von grossen Künstlern und Erfindern, ganz im Gegenteil sind es die anonymen Unbekannten, die Amateure (heute Hacker, Nerds etc.), die als kritische Masse einen Umbruch und Paradigmenwechsel in der Medienentwicklung auslösen, wie ich es am Radioboom der 1920er und am Netboom der 1990er zeige.

Hinter unserem Missverständnis zur Methode verbirgt sich vermutlich einer der entscheidenden Unterschiede zwischen Kunst und Medien: Der Ruhm eines Künstler bleibt immer personalisiert, der eines Erfinders löst sich von ihm, er objektiviert sich im Apparat und seiner Wirkung, so dass man schliesslich vom «morsen» spricht, ohne dabei noch an S. F. B. Morse zu denken.

 

Scheitern als Chance

Die Periode vor dem Ersten Weltkrieg, in der sich Künstler wie Apollinaire, Marinetti oder Russolo für die Möglichkeiten neuer Technologien und Medien interessierten und zum Teil auch begeisterten, ist heute relativ gut dokumentiert und mehr oder weniger bekannt als das Labor, in dem die meisten künstlerischen Konzepte ausgebrütet worden sind, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. In ihrem Buch Interessieren Sie sich unter anderem für frühe «cross-media-Künstler» wie Apollinaire, Ruttmann oder Russolo. Doch Ihr Fazit von deren Experimenten fällt recht negativ aus: «Die Avantgarde-Utopien, die im Verlauf des 20. Jahrhundert die Marginalität der Moderne durch Medien zu überwinden suchen, realisieren sich nicht in Form autonomer Kunstwerke, sondern als Teil der populären und industriellen Massenkultur. Der antizipatorische Charakter von Kunst wird so zwar bestätigt - aber keineswegs ihr eigentliches, utopisches Ziel.» Überfrachtet man die Kunst nicht mit zu hoch gesteckten Erwartungen, wenn man ihre Resultate an den Hoffnungen misst, die ihre Schöpfer im ersten Überschwang der Gefühle formuliert haben? Und: muss es das Ende jeden utopischen Gehalts sein, wenn ehemalige Avantgarde-Ideen zu Massenkultur werden?

Dieter Daniels: Ich muss zunächst noch einmal betonen: Es geht mir nicht nur um eine Geschichte medialer Kunstformen, sondern um mehr; um einen neuen Blick auf die Mediengeschichte aus der Perspektive der Kunst. Deshalb verfolge ich auch im 20. Jahrhundert eine Parallelstruktur von Funktechnik, Amateurbegeisterung und Film mit Dichtung und Malerei. Die künstlerische Avantgarde erweist sich dabei als ein Wegweiser, der aber selbst den Weg nicht geht. Sie antizipiert Wahrnehmungsformen, die heute zum medialen Alltag gehören, wie etwa die globale Simultaneität und Omnipräsenz der drahtlosen Kommunikation ( z. B. bei Apollinaire, Cendrars, Delaunay). Doch die reale Implementierung ins «echte Leben», wie wir sie heute unter dem Diktat der ständigen Erreichbarkeit via Handy und Mail fast schmerzhaft erleben, kann Kunst nicht leisten. Tatsächlich konterkariert diese Medienrealität sogar oft die utopisch-euphorischen Entwürfe der Künstler.

Die Medienentwicklung hingegen wird zwar von ästhetischen, quasi-künstlerischen Motiven stimuliert ( z. B. bei den Funkamateuren und den dichtenden Funkerfinder De Forest und Tesla), doch sie löst sich von diesen Personen und Motiven, um mit einer nicht mehr zu steuernden, brutalen Eigendynamik die Welt zu verändern. Dabei wird sie nur von ökonomischen, politischen und sozialen Kräften beschleunigt bzw. gestoppt, jedoch nicht mehr von ihren ästhetischen Ausgangsmotiven. So wie wir es im letzten Jahrzehnt mit dem Boom und Crash des Internet-Hypes erlebt haben, ging es unseren Ur-Grosseltern mit dem Radioboom bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929.

Für die Kunstavantgarde hingegen kann man von «Scheitern als Chance» sprechen (frei nach Schlingensief). So wie die New Economy die Pionierphase der Net.Art platt gewalzt hat, drängte der unerwartet grosse Erfolg des Radios die frühen Ansätze zu einem Hörspiel-Kunstmediums an den Rand. Was bleibt? Die Schönheit von uneingelösten Utopien, die darauf verweisen, dass es auch anders sein könnte, als es in unserem banalem Medienalltag ist. «Die Netzkunst wäre an ihren ureigenen Qualitäten gescheitert,» schreiben Sie in diesem Sinne in der «Zeit» vom 28. November 2002 [4]. Es ist ihr, ebenso wie dem Hörspiel, dem Experimentalfilm und der Videokunst, nicht gelungen, ihr mediales, ökonomisches und künstlerisches Kontext-System so zu verändern, wie es in ihrem utopischen Projekt ursprünglich angelegt ist. Doch das ist gut so, denn wäre dies geschehen, dann hätte die Kunst den Realitätstest vermutlich ebensowenig bestanden, wie Schlingensiefs «Chance 2000», als sie von einem Kunstprojekt zur realen, wählbaren Partei wurde.

 

In der Medienkunst finden sich Zeichen für uneingelöste Modelle

In vielen kann ich Ihnen nur zustimmen, aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass künstlerische Utopien, die die Medien betreffen, immer irgendwann automatisch von Wirtschaft und Politik planiert werden. Das ist mir zu pessimistisch, und es gibt auch Gegenbeispiele: die Brechtschen Radioutopien motivieren heute noch viele Piraten- und Internetsender. Die hatten in Deutschland zwar nicht die Massenwirkung wie in andere Ländern, wo Radiopiraten zum Teil ja sogar richtige Sendelizenzen bekommen haben, aber wichtig ist es, dass solche Ideen im Umlauf sind und bleiben, und Leute dazu motivieren, etwas anderes zu machen, als bloss zuzuhören und zuzusehen.

Und gerade in der Kunst haben die Ideen der frühen Funkamateure sehr viel länger vorgehalten als bis zum ersten grossen Radioboom in den 20er Jahren. Kraftwerks «Radioaktivität»-Album, die Solo-Platten von Holger Czukay, Scanners Gesamtwerk sind direkt oder indirekt von diese frühen Radioideen beeinflusst, aber auch zum Beispiel eine Komposition wie Stockhausens «Kurzwellen» oder diverse andere Stücke von den frühen Elektronikpionieren.

Dieter Daniels: Die Schlüsselrolle der Funkamateure für die Massenmedienentwicklung ist ebenso unbestritten wie das Fortwirken ihrer Ideale bis heute insbesondere in der Netz-Euphorie der 1990er. Doch bis heute sind alle Utopien zu einer offenen, hierarchieloseren, nicht nur von den grossen «Sendern» bestimmten Medienstruktur ebenso wie die entsprechenden künstlerischen Avantgarde-Entwürfe immer nur Gegenmodelle zu den herrschenden Verhältnissen geblieben.

In bestimmten Umbruchphasen, wenn ein neues Medienmodell sich ausformt (z.B. das «Broadcasting» oder das «World Wide Web»), verbinden sich künstlerische, technische und gesellschaftliche Ideen und es scheint möglich zu sein, dass von nun an alles ganz anders wird. Doch wenn diese Entwicklung eine «kritische Masse» überschreitet, verlässt sie die Insiderkreise und wächst damit zugleich über deren Ideale hinaus. Ihre Breitenwirkung setzt ein und die oben genannte Eigendynamik von Wirtschaft und Politik macht sich unaufhaltbar breit. In diesem Moment wird klar, dass diese Ideen und Utopien zu einer neuen, anderen Funktion der Medien letztlich eine grundsätzlich andere Gesellschaftsstruktur zu ihrer Realisierung erfordern würden.

Deshalb bleiben diese Modellentwürfe insgesamt uneingelöst und ziehen höchstens als «kleine Medien» ihre Kreise. Oder um es mit dem letzten Satz von Brechts Rede zum «Rundfunk als Kommunikationsapparat» zu sagen: «Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser ANDEREN Ordnung.»

Die bleibenden Zeichen für diese uneingelösten Modelle sind bis heute u.a. in der Medienkunst zu finden - die ja für uns beide den Ausgangspunkt für das Interesse an historischer Medientechnikentwicklung bildet. Insofern stimmt meine «zweite Hauptthese» durchaus mit Deinen Beispielen von Stockhausen bis Scanner überein.

 

«Medienamateure» werden meist vom industriellen Mainstream an den Rand gedrängt

Dass es im Internet aus ökonomischen Gründen keinen «Qualitätscontent» gibt, kann man wohl kaum behaupten. Das Inhaltsproduktion viel regelmässig ausgegebenes Geld kostet, mag für tagesaktuelle Nachrichten oder ähnliches gelten. Aber wenn ich im Netz nach «hochwertigen Informationen» darüber suche, wie Kernfusion funktioniert oder wie die erste Platte von Kraftwerk heisst oder wie man Flammkuchen backt, werde ich in der Regel auf Seiten fündig, die nicht unter kommerziellen Gesichtspunkten entstanden sind, sondern von Universitäten, Musikfans oder heimatverbundenen Elsässern stammen. Nicht umsonst gehen die meisten Journalisten heute nicht mehr ins Archiv, wenn sie Hintergrundinformationen zu einem neuen Thema suchen, sondern «googlen». Und benutzen damit eine Suchmaschine, die ebenfalls nur zu einem minimalen Teil werbefinanziert ist.

Das Interessante am Internet ist doch gerade, dass dieses globale Archiv ohne Businessmodell, GEZ-Gebühren und freundlicher Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds entstanden ist, sondern zum grossen Teil aus Eigeninitiative, «Unterhaltung», «Leidenschaft», «Selbstzweck». Und, wie gesagt, dass das so ist, ist quasi ins Netz einprogrammiert, propietäre Modelle mit eingebauten Pay-Knopf - wie zum Beispiel BTX - sind dagegen lange gescheitert. Damit soll nicht gesagt sein, dass das für immer so bleiben muss oder dass die Produktion von Content nicht auch unterstützt und finanziert werden sollte. Aber im Augenblick funktioniert es auch so noch ganz gut, wie eine Netzrecherche zu einem beliebigen Thema (oder das Surfen durch ein Filesharing-System) beweist. Die Hackerparole «Information should be free» hat sich glänzend durchgesetzt. Sie hat zwar keine vollkommene Revolutionierung von EigentumKapitalismusEtc ausgelöst, aber es hat andere Konzepte von Tausch, Kooperation, Partizipation möglich gemacht, die nicht in erster Linie von ökonomischen Zwängen gesteuert werden. Damit ist auch das alte Showstopper-Argument entkräftet, dass man ohne eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsform nicht anders handeln kann als ökonomisch.

Dieter Daniels: Was den heutigen Stand der Dinge von Informationsfreiheit im Netz betrifft, sind wir uns glaube ich einig. Doch mir geht es um die langfristige Perspektive, denn es gibt viele Versuche zur Schliessung der Offenheit, politische Zensur (von China bis USA) ebenso wie Wirtschaftsstrategien (z.B. die User komplett in der AOL Welt zu halten). Der Niedergang der New Economy hat derzeit für eine Atempause gesorgt, aber ich bin mir nicht sicher, wie das Netz in zwanzig Jahren aussieht.

Doch grundsätzlich versuche ich ja zwei Arten von individueller Autonomie gegenüber den Medien zu unterscheiden: der «Medienamateur» konstruiert seine eigene technische Basis und arbeitet aktiv mit dem Medium, der «Medienflaneur» umgeht als mobiler Rezipient die vorgegebene Inhalte, indem er die Kanäle neu kombiniert. Letzteres wird es immer geben, wie das Zapping durch Kabel- und Satelliten-TV zeigen, steigt der Fun-Faktor sogar mit der Kommerzialisierung. Von den Funkamateuren bis zu den Hackern ist die aktive Rolle der «Medienamateure» bei der Konstruktion des Mediums jedoch meist vom industriellen Mainstream an den Rand gedrängt worden, oder sie wurde als neuer Markt kommerzialisiert und zugleich gezähmt.

Es geht mit aber auf keinen Fall um eine Neuauflage der Kulturkritik an den Medien, ganz im Gegenteil, diese verkennt eben den Faktor, dass Medientechnik immer schon «Unterhaltung», «Leidenschaft» und «Selbstzweck» war, von der «Daguerrotypomanie», die nach der Bekanntgabe der Erfindung der Fotografie 1839 ausbricht, bis zum Filesharing und der Demoszene. Deshalb ja meine These, dass die «Amateure» von der Kunst zu den Medien übergelaufen sind. Der Eifer, mit dem dereinst Kunstliebhaber den grossen Meistern nacheiferten, wird heute in die Perfektionierung eigener Medienprodukte, von der Homepage bis zum Urlaubsvideo, gesteckt.

Wie das Netz in zwanzig Jahren aussieht, ist in der Tat schwer abzusehen. Aber in Ihrem Buch steht, dass die «ehemals künstlerischen Motive» und Amateur-Utopien zwar zur «Evokation neuer Medienformen wie dem Radioboom oder dem Netboom» führen, «wobei ihre Utopien jedoch durch die industrielle Eigendynamik zugleich widerlegt werden». Das bezieht sich eindeutig auf das Internet der Gegenwart, und da sehe ich diese Entwicklung noch nicht. Es wird zwar zu kommerziellen Zwecken genutzt, aber es gibt eben auch noch einen grossen Bereich, den man unter «public domain» oder «information should be free» fassen könnte. Darum wäre ich da mit historischen Vergleichen und generalisierenden Thesen vorsichtig. Im Gegensatz zum Radio gibt es beim Internet eben eine unbegrenzte Bandbreite, und darum sehe ich auch keinen Grund, aus dem diese Informationsquellen verdrängt werden sollten...

Und damit zur letzten Frage: Im Gegensatz zum Radio, das von Künstlern vorweggenommen und künstlerisch vorbereitet worden ist, haben Vorstellungen von globaler Vernetzung in der bildenden Kunst vor dem Aufkommen des Internets nur auf einer sehr abstrakten Ebene eine Rolle gespielt Wie erklären Sie sich, dass die Kunst diese Entwicklung quasi verschlafen hat und erst aufgesprungen ist, als das Internet zum Massenmedium wurde?

Dieter Daniels: In der Mailart von Ray Johnson und globalen Projekten wie dem «Spatial Poem» von Mieko Shiomi werden durchaus Idee und Praxis einer Kunst der Vernetzung schon in den 1960ern mittels der guten alten Post antizipiert. Mittels technischer Medien realisiert dann beispielsweise Paik in dem Video «Global Groove» 1973 die Vision eines weltweiten TV-Netzes (deswegen schmückt ein Still daraus auch das Buchcover). 1984 vernetzen Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz Los Angeles durch ihr «Electronic Cafe» mit öffentlichen, multimedialen Terminals, 1991 eröffnet «The Thing» ein BBS-Netz von privat-öffentlicher Kommunikation, noch bevor der heimische Internet-Anschluss zur «commodity» wurde. Es fehlt also nicht an Projekten, die auf verschiedenen technischen und konzeptuellen Ebenen Realität und Idee der Vernetzung erproben und erkunden.

Doch all das wird im Buch nur am Schluss angerissen, denn es geht ja um «Kunst als Sendung». Um solchen Ansätzen gerecht zu werden, müsste man aber ebenso eine weitreichende Parallele von Technikgeschichte und Kulturentwicklung untersuchen: beispielsweise dass Cage 1972 in einem Interview schon eine technisch sehr konkrete Netz-Idee formuliert und vier Jahre darauf Deleuze und Guattari mit dem «Rhizom» ein epistemisches Modell heutiger Netzkultur entwickeln.

Um solche erstaunlichen Dinge zu untersuchen, wäre wohl ein zweites Buch nötig und vielleicht schreibe ich das ja in diesem Leben noch. Solche Grundlagenforschung braucht ihre Zeit, im Fall des vorliegenden Bandes waren das fünf Jahre. Falls es also je eine Fortsetzung geben sollte, dann können wir ja auch unseren Streit über die Zukunft des Netzes auf neuem Stand fortsetzen.

 

Dieter Daniels: Kunst als Sendung Von der Telegrafie zum Internet. Beck Verlag. 315 Seiten, Klappenbroschur, EUR 28

 

Links

[1] http://www.hgb-leipzig.de/daniels/ueber_den_autor.php
[2] http://rsw.beck.de/rsw/shop/default.asp?sessionid=7CEB157E144B4DD9B9BB37 B317335306&docid=63677
[3] http://www.medienkunstnetz.de
[4] http://www.zeit.de/2002/49/Netzkunst

Telepolis Artikel-URL:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/sa/13975/1.html

 

 

 


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