Das Ende der Theorie: Der Anfang der Diskurse

Von Jan Winkelmann

 

 

Wenn man pauschal ein «Ende der Theorie» konstatiert, würde man sich folgerichtig ganz automatisch folgende Frage stellen oder zumindest gefallen lassen müssen: «Hat die Theorie jemals begonnen?» Und wenn ja, wann bzw. von welcher Theorie sprechen wir denn überhaupt? Dies en detail zu eruieren, ist ein mühsames und in der vorgegebenen Kürze an dieser Stelle nicht zu leistendes und wahrscheinlich auch gar nicht gefordertes und opportunes Unterfangen. Was tun? Machen wir es uns leichter, indem wir zunächst einmal ins Bücherregal greifen, die Greatest Hits der Kunsttheorie, wie sie in der Anthologie «Art in Theory 1900-1990» in kompakter Form zusammengefasst sind, zur Hand nehmen und dabei beruhigt feststellen, dass hier bereits eine ausreichende Evaluierung des modernistischen Monopols der ästhetischen Werte geleistet wurde und wir hier jetzt im integrativen Blick die Zeit danach unter die Lupe nehmen können.

Zugegebenermassen etwas verkürzt könnte man feststellen, dass der Zusammenbruch einer der letzten grossen gesellschaftlichen Ideologien dieses Jahrhunderts, die einsetzende Rezession und der daraus resultierende Zusammenbruch des Kunstmarktes zu Beginn der 90er Jahre bei einer Vielzahl von Künstlern vornehmlich der jüngeren Generation zu einer Umorientierung bzw. Neuorientierung im Sinne einer kritischen Bewertung und Infragestellung der überkommenen, die 80er Jahre bestimmenden Werte führte. Die in den vom Börsenboom inspirierten 80er Jahren revitalisierten modernistischen Fetischisierungstendenzen sowohl im Hinblick auf das Kunstwerk selbst, aber auch in Bezug auf den Begriff des Geniekultes von der einzigartigen Schöpferpersönlichkeit des Künstlers liessen ein Unbehagen gegenüber der Objektfixierung und den Personalisierungstendenzen durchaus als legitim erscheinen. Einem linear-antizyklischen Modell von Bewegung und Gegenbewegung folgend, könnte man die Anfang der 90er Jahre stattfindende gleichzeitige Entstehung einerseits der «Kontext Kunst» als einer ausgesprochen selbstreferentiellen und dem gegenüber mit der interventionistischen Kunst andererseits einer gesellschaftspolitisch engagierten Praxis als eine Reaktion hierauf deuten. Beide, so unterschiedlich sie in ihrer Stossrichtung waren, haben dennoch etwas gemeinsam: sie favorisierten eine ausgesprochen theoriebezogene künstlerische Praxis. Dies, so könnte man behaupten, war die (vorerst) letzte mehr oder weniger umfassende Theoriebildung in der Kunst.

In den 90er Jahren hat sich ein Pluralismus der Konzepte, Haltungen und Strategien entwickelt, der in der Geschichte ohne Vorbild ist und vielfach zu unmittelbaren Auswirkungen auf andere Bereiche der zeitgenössischen Kunstproduktion führte bzw. eine Industrialisierung des Kunst- und Ausstellungsbetriebes mit sich brachte. Noch nie zuvor in der Geschichte gab es so viele Ausstellungen zeitgenössischer Kunst wie in den 90er Jahren. Es gab auch noch nie so viele Künstler, Galerien, Institutionen, Kunstmagazine etc. Kurzum, es gab noch nie ein so grosses Interesse für aktuelle Kunst wie heute. Insbesondere wurde aber auch noch nie so viel über Kunst geschrieben.

Die fetten 80er Jahre hatten doch länger vorgehalten, als man dachte, und das grosse internationale Kunst-Karussell derart grundbeschleunigt, dass es trotz des zuvor beschriebenen Kunstmarkteinbruchs weiterhin immer mehr an Fahrt gewann. So sind zum Beispiel als eine angenehme Nebenwirkung des prosperierenden Gründungs- und Baubooms von neuen Museen in den 80er Jahren auch eine Reihe neuer nichtmusealer Institutionen entstanden, bereits existierende Institutionen, wie Kunstvereine, Kunsthallen und ICAs haben ihr Programm präzisiert und inhaltlich dezidierter ausgerichtet bzw. weniger assoziativ oder beliebig geführt, als dies zuvor der Fall war. Überdies haben viele klassische Museen verstärkt begonnen, neben ihren permanent ausgestellten Sammlungsbeständen nun auch temporäre Ausstellungen aktueller Kunst zu zeigen. Die Nachfrage wuchs und das Angebot reagierte darauf. Oder war es das breite Angebot, das die Nachfrage forcierte? Mühsam, diese Kausalzusammenhänge auf Ursächlichkeiten hin zu überprüfen. Jedenfalls wäre festzustellen, dass die Kunstwelt mittlerweile ein hoch differenziertes Feld ist, das sich durch eine Vielzahl von Aufgaben und Funktionsbereichen definiert, die wiederum den einzelnen Aufgaben angepasste, professionelle «Spezialisten» erfordert: Künstler, Galeristen, Kritiker, Kuratoren, Konservatoren und Kunstwissenschaftler teilen sich die Aufgaben der Produktion, Promotion, Vermittlung, Beurteilung, Musealisierung und des Verkaufs von Kunst. Die einzelnen Funktionsbereiche überschneiden sich zwar gelegentlich, sind jedoch grundsätzlich durch (hierarchische) Machtverhältnisse voneinander getrennt. Man könnte fast davon sprechen, dass zeitgenössische Kunst einem High-End-Produkt gleicht, das vielfach kompatibel zu anderen Bereichen aktueller Kulturproduktion ist, vielfach eben aber auch nicht.

Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum wunder, dass die «Theorie» hierbei nur eine Rolle unter vielen spielt. Wobei das Wort «Theorie» sich hier fast ein wenig altmodisch ausnimmt. Betrachtet man es einmal genauer, stellt man fest, dass Kunst-Theorie im 20. Jahrhundert hauptsächlich von Künstlern «gemacht» respektive geschrieben wurde. Dies, so kann man grob festhalten, galt bis in die 70er Jahre, wo die «Künstler-Theorie» mit der Konzept Kunst ein «ruhmreiches» Ende fand. In der Postmoderne waren es hauptsächlich Philosophen, deren Theorien zwar nicht explizit und ausschliesslich als Kunst-Theorien verfasst worden sind, aber gerade auch im Bereich der Kunst diskutiert und angewandt wurden. Die theoriearmen 90er Jahre waren aber gar nichtso arm und substanzlos, wie es dieser Begriff im ersten Moment suggeriert, denn es ergab sich ein verändertes Bewusstsein der künstlerischen Produktions- und Denkweisen. Wenn dies auch kein mit Paukenschlägen und grossen Manifesten theoretisch untermauerter radikaler und drastischer Wandel war, so galt es durchaus, diesen auch auf einer theoretischen Ebene zu reflektieren und zu begleiten. Neue Wege und Möglichkeiten des Kunstschaffens und deren Präsentation wurden gesucht. Gleichzeitig fand, damit einhergehend, eine verstärkte Hinwendung zu Themen aus dem Bereich des Alltags, der persönlichen Lebens- und Arbeitsumstände, gesellschaftlicher Phänomene und den existentiellen Befindlichkeiten des menschlichen Individuums statt. Der alte Wunsch, Kunst und Leben einander näher zu bringen, bzw. die nie erreichte Utopie, sie letztlich miteinander zu verschmelzen, ist, könnte man - obwohl nicht als ein kollektives Konzept formuliert - vielleicht als eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner definieren. Daneben führte die Verlagerung und fast vollständige Auflösung des Werkbegriffs sowie die «künstlerischen» Übergriffe und teilweisen Aneignungen aus anderen Bereichen künstlerischer und nichtkünstlerischer Produktion (unter dem Begriff «Crossover» eines der Schlagworte der 90er Jahre) dazu, dass neue Präsentations- und Distributionsformen gesucht wurden, wodurch sich gleichzeitig auch die Notwendigkeit für andere Vermittlungsformen abseits der klassischen existierenden Vermittlungsstrukturen ergaben. Mit dieser Entwicklung und dem sich immer komplexer gestaltenden Funktionsgebilde «Kunst» wurde es auch immer unmöglicher, die Kunst unter einzeltheoretischen Aspekten zu subsumieren. Das, so könnte man rückblickend feststellen, war dann gleichzeitig auch das Ende «der Theorie» und markiert im selben Moment die Geburtsstunde «des Diskurses», der an die Stelle «der Theorie» trat. Wo sich der Begriff Theorie noch weitgehend universell, im Sinne von allgemeingültig, ausnimmt, wäre der Diskurs eher als individuell spezifisch zu beschreiben. In einem inhaltlich und funktionstechnisch derart differenzierten System, wie es die zeitgenössische Kunst heute darstellt, ist es wenig verwunderlich, dass die jeweiligen Funktionsbereiche eine Vielzahl von möglichen Diskursangeboten und -optionen bietet, die von ihren jeweiligen Spezialisten diskutiert werden und dabei gelegentlich auch auf benachbarte «Bereiche» ausstrahlen und Wirkung ausüben. Jeder kocht sein eigenes diskursives Süppchen, sei es in Form kopflastiger, nicht selten von telefonbuchdicken Katalogen begleiteten Ausstellungen, sei es in Form von den als Vermittlungsinstrument immer beliebter werdenden Symposien. Sei es durch gewichtige und materialreiche Themenschwerpunkte in Kunstzeitschriften, bevorzugt von Akademien herausgegebene Theorie-Reader oder präzise thematische Einzelpublikationen von jedem, der sich dazu berufen fühlt. Auffallend ist, dass, obzwar es eben durchaus noch ein übergreifendes Interesse an theoretischen Auseinandersetzungen gibt, diese sich nicht derart bündeln lassen oder konzentriert werden können, als dass man von einer umfassenden oder übergreifenden Theoriebildung sprechen kann. Andererseits sind kurz nach der Jahrtausendwende die Grenzen der Gattungen vielfach und in alle Richtungen überschritten und somit auch die Übergänge zwischen den Künsten derart fliessend geworden, dass die Definition der Sparten vielerorts weitgehend aufgelöst scheint. Nichtsdestotrotz sind sie aber dennoch existent. Letztlich «passt» sich die Theorie hier lediglich der Kunst an, dem Pluralismus der Konzepte, Strategien, Formen steht ein eben solcher auch im Bereich des Diskurses gegenüber. Letztlich bedingen sich beide gegenseitig, aber von Theorie im Sinne von «Theorie» kann keine Rede mehr sein.

 

 

 

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Zuerst veröffentlicht in: Material, Nr. 4, Herbst/Winter 2000
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