H. R. Fricker
Laudatio zum Konstanzer Kunstpreis 2002

Von Corinne Schatz

 

 

Vier Aspekte verweben sich im Schaffen von H.R. Fricker, die vielfältig ineinander spielen und die ich mit folgenden Begriffen umschreiben möchte: Territorialisierung, Wahrnehmung, Kommunikation und Vernetzung. Ich möchte im Folgenden in mäandernden Bewegungen, wie es sich beim Bergwandern gehört, mich diesen Aspekten annähern und Bezüge zwischen Frickers bisherigem Schaffen und seinem neuesten Projekt aufzuzeichnen versuchen.
Die ersten sichtbaren Aktivitäten H.R. Frickers in St.Gallen galten einer Art In-Besitz-Nahme des öffentlichen, städtischen Raumes. Damals, Ende der 70er Jahre, durchstreifte er St.Gallen und setzte Markierungen seiner Anwesenheit und seiner Pfade in Form von kleinen Plakaten mit seinem schemenhaften Konterfei, die er an verschiedensten Orten - auch verbotenen - platzierte.
Diese Aktivität stand vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der internationalen Kunst seit den mittleren 60er Jahren, welche den Ausbruch aus den festen Strukturen des Kunstmarktes und der Museen suchte und sich in einer neuen Verantwortlichkeit des Künstlers gegenüber seinem Werk und der Gesellschaft manifestierte. Die Künstler verliessen nicht nur die etablierten Räume der Kunst, sondern z.T. sogar die Städte, um fernab der Zivilisation ihre Werke zu schaffen. Eine neue Form der sozialen Verpflichtung des Künstlers, seines Eingebundenseins in die Gesellschaft, und auch der Glaube, darin Bewusstseinsveränderungen bewirken zu können, standen hinter vielen dieser Bewegungen der 60er und 70er Jahre. Das Selbstverständnis des Künstlers bewegte sich weg vom Produzenten handelbarer Objekte hin zu einem Subjekt, das sich durch bestimmte Haltungen und Handlungen im sozialen, kulturellen und politischen Kontext manifestiert. In der Schweiz fasste der damalige Berner Kunsthalle-Leiter Harald Szeemann diese Bewegungen unter dem vielsagenden Titel «Wenn Attitüden Form werden» 1969 in einer Ausstellung zusammen. Diese Gedanken prägen den jungen Künstler, der als kaum 20jähriger auch die 68er Bewegung in Zürich erlebt und unter dem Eindruck der Vermischung von Politik, Kultur, Kunst und Widerstand zur Überzeugung gelangt, dass Kunst in erster Linie der Bewusstseinsbildung und -veränderung diene.
Vor diesem Hintergrund entwickelt der junge Fricker eine fast verschwörerische Attitüde, er benützt eine Art «Partisanenjargon» mit Begriffen wie: Territorialisierung, Solidarisierung, Strategie, und gründet nach seinem Umzug ins appenzellische Trogen 1975 das «Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Lande».

Die Besetzung von Räumen durch künstlerische Strategien, die sich nicht an die offiziellen Strukturen halten, oder diese zu eigenen Zwecken umfunktionieren, bildet ein durchgehendes thematisches Band in seinem Schaffen.
So liegt sie auch den zahlreichen Arbeiten zugrunde, die rund um seine Orte-Schilder resp. Orte-Begriffe entstanden sind. In den 80er Jahren, im Anschluss an seine aktive Zeit in der Mail Art Szene, setzte eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Sprache und ihrer Wirkung auf die Wahrnehmung ein. In einer ersten Intervention 1985 liess er 50 Personen mit einem Ansteckknopf, auf dem zu lesen war: ORT DER LIST, durch St.Gallen spazieren. Die Personen wurden damit einerseits selbst definiert - sozusagen als Warnung, trugen aber zugleich die Bezeichnung an alle Orte, wo sie hingingen.
Der subversive Charakter dieser Strategie steigerte sich durch den spezifischen Sprachgebrauch, der von Anfang an mit Begriffen aus der menschlichen Triebstruktur, aus der Welt der Gefühle und Verhaltensweisen - teilweise aus moralisch tabuisierten Bereichen - arbeitete. (z.B. Angst, Lüge, Wut, aber auch Lust). Die geografisch grösste Territorialisierung - diesmal mit öffentlichem Auftrag der Stadt - ist 1996 in St.Gallen entstanden: Durch das ganze Stadtgebiet legte Fricker ein «Rückgrat» mit 14 zugelosten Orte-Feldern von jeweils 400x400 Metern, eingepasst in das Schweizer Koordinatensystem. Die Felder sind im Trottoirbelag mit Messing-Markierungen, wie sie üblicherweise vom Tiefbauamt benutzt werden, bezeichnet. So steht das Rathaus am «Ort der Vision», und das Museumsquartier wird zum «Ort der List». Auf dem dazugehörigen Stadtplan lässt sich verfolgen, wie sich diese «Orte» über die tradierten Flurnamen hinwegbewegen und ein neues Orientierungssystem etablieren, das mit dem gewachsenen in vielfältigen und mehrdeutigen Kontrast tritt.
In den letzten paar Jahren haben sich auch an anderen Orten seine Beschilderungen dauerhaft eingenistet, wo sie Arbeits- und Lebensraum verschiedenster Menschen prägen. So in der Kantonsschule Trogen, im Ausbildungszentrum der POST, in Magglingen, in der Hauptpost in Bern, oder im Thurgauer Kunstmuseum in der Kartause Ittingen. Hier steht ein Orte-Schrank, aus dem sich Interessierte für einige Zeit ein Orte-Schild ausleihen und in ihrem Heim oder Büro platzieren können. Ein von Fricker gestalteter Leihschein und ein Foto vom Aufenthaltsort geben dem Museumsbesucher Auskunft über den derzeitigen «Besitzer» der Tafel. Fricker sprengt damit die Grenzen des Museums, es erweitert sich in verschiedenste private Räume, und diese öffnen sich - zumindest virtuell - zu Ausstellungsräumen.
Auch im Naturraum haben sich seine Orte-Schilder zeitweise eingenistet und Spaziergänger und Wanderer verwundert: so 2000 am Fest der Künste im Engadin entlang dem Weg von Pontresina nach St. Moritz Bad.
H.R. Fricker spielt mit seinen Beschilderungen auf verschiedenen Ebenen mit Irritation und Suggestion. Schilder werden im Alltagsgebrauch als Hinweis zur Deutung eines Ortes gelesen oder geben Verhaltensregeln bekannt, d.h. sie assoziieren Bedeutung oder haben einen gewissen Befehlston. Die selbstverständliche Voraussetzung oder Erwartung, dass ein sinnvoller Zusammenhang zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, zwischen Text und Raum bestehe, führt angesichts der Begriffe, mit denen der Künstler operiert, zu Verwirrung. Da ein Bezug zum Ort zwar durch das Medium Schild impliziert wird, aber kaum sinnvoll herzustellen ist, findet sich der Betrachter mit den Räumen seiner eigenen Gedanken und Gefühlen konfrontiert. Die Worte entfalten im Raum seines subjektiven Wertesystems ihre Wirkung.

Im Alpstein Museum variiert Fricker diese Methode und geht einen etwas anderen Weg. Diesmal setzt er nicht die Begriffe aus seinem Orte-Satz in eine Landschaft oder in einen Raum, sondern er beschränkt sich zunächst darauf, die Gasthäuser im Alpstein mit einer kleinen Tafel «Alpstein Museum» zu versehen. Es ist eine neue Form der Eroberung eines Territoriums, denn er legt nicht offensichtlich eigene Spuren in den Raum, sondern verweist mit seinen Täfelchen vielmehr auf die unzähligen Spuren anderer, auf die Generationen von Wanderern, Bergsteigern, Eremiten, Bauern, Gastwirten, Wissenschaftlern, usw., die seit Jahrhunderten den Alpstein begehen. Dabei setzt er wiederum jene bestimmende und richtungsweisende Wirkung von Hinweistafeln ein.
Die Irritation des Besuchers geschieht jetzt aber weniger durch die Inkongruenz von Begriff und Ort, sondern durch die Überraschung, dass er/sie teilweise Altbekanntes unter einem völlig neuen Aspekt - eben des Musealen - wieder entdeckt.
H.R. Fricker schlüpft für das Alpstein Museum in eine Vielzahl an Rollen: Historiker, Naturforscher, Kurator, Geschichtenerzähler, - doch Sie fragen sich vielleicht: wo bleibt der Künstler, der künstlerische Akt? Erklärt er mit seinen Aktivitäten das Alpsteingebiet zu einem - sogar zu seinem - Gesamtkunstwerk? Oder sind seine Wanderungen im Alpstein mit Richard Longs oder Hamish Fultons Wanderungen zu vergleichen? Fulton dokumentiert seine Wanderungen mit Fotografien und kurzen, meist nur Ort und Zeit umfassenden Texten, ohne in den bereisten Gebieten Spuren zu hinterlassen. Long hingegen legt vielerorts seine einfachen Steinkreise und Holzlinien, und hält sie in wunderschönen, komponierten Fotografien fest.
Das Wandern stand auch bei Fricker am Anfang, jedoch zunächst mit rein gesundheitlichen Zielen. Bald wurde ihm dabei bewusst, dass er sich nicht nur in einem Naturraum bewegte, sondern dass dieser Naturraum ausserordentlich stark von Menschen geprägt ist. Dass Tausende von Spuren auf eine lange Präsenz des Menschen in diesem Gebirge hinweisen - ja, dass es sich eigentlich um einen ausgeprägten Kulturraum handelt, der in Jahrhunderten gewachsen ist. Es würde den Rahmen dieser Ansprache sprengen, die Geschichte dieses Kulturraumes nachzuzeichnen ...
Fricker lernte die Menschen kennen, die heute in diesem Gebiet leben und arbeiten, und sich mit verschiedensten Motivationen darin bewegen, zum Forschen, zur Erholung, zur sportlichen Herausforderung, für Geselligkeit oder kulinarische Höhenflüge. Es gibt im Alpenraum wohl kaum ein Gebiet, das so dicht nicht nur mit Alphütten, sondern auch mit Gasthäusern bestückt ist. In diesen Gasthäusern entdeckte Fricker Geschichten und GeschichtenerzählerInnen; oft werden die Häuser seit Generationen von derselben Familie geführt, oder gehören diesen sogar. Er sah die Fotografien und andere Bilder in den Gaststuben und Gastzimmern, vieles jedoch bleibt dem Besucher verschlossen, wenn er nicht das Glück hat, vom Wirt, der Wirtin über deren Bedeutung aufgeklärt zu werden. So begann Fricker, diese Sammlungen zu sichten und zu beschriften und sie damit jedem Besucher, jeder Besucherin zu erschliessen. In einzelnen Gasthäusern geht sein Engagement aber auch weiter, da wird er zum Kurator: Als in der «Meglisalp» auf dem Dachboden Zeitungen und Zeitschriften aus den späten 20er und frühen 30er Jahren gefunden wurden, richtete er eine Lesestube ein, in der man in diesen Dokumenten aus der Zeit kurz vor der Machtübernahme der Nazi stöbern und lesen kann. Nach dem Umbau der «Stauberen» gestaltete er die Gastzimmer mit Werken zeitgenössischer KünstlerInnen aus einer Privatsammlung. Er richtet überall Bibliotheken ein mit Literatur aus und über den Alpstein, den Alpinismus und viele verwandte Themen.
All diese Aktivitäten scheinen oberflächlich betrachtet mit H.R. Frickers eigenem künstlerischen Schaffen nicht direkt zu tun zu haben. Sie beziehen sich ganz auf die Präsentation des Vorhandenen.
Die «Territorialisierung» geschieht in diesem Falle in umgekehrter Richtung: Fricker trägt «sein Territorium» in den Kunstraum, über das Medium der Fotografie. Seine Texte setzt er nicht wie die Orte-Schilder in die wirkliche Landschaft, sondern in diese übertragenen und transportierten Landschaftsbilder.
Diese erschliessen sich dem Betrachter erst auf den zweiten Blick. Es sind keine spektakulären Bergbilder, wie wir sie aus unzähligen Fotobänden kennen. Bei intensiverem Beschauen offenbaren sie jedoch eine sehr präzise, sehr bewusste Motiv- und Ausschnittwahl. Dabei spielt Fricker immer wieder auf Traditionen in der Kulturgeschichte, in der Kunst wie auch in der Alltagsfotografie an. So gibt es «Hommagen»: z.B. an den Mythos des einsamen Wolfes (resp. Wanderers), oder an bestimmte Künstler: letzteres Bild könnte man auch als Hommage an Richard Long und dessen Spurenlegungen in einsamen Landschaften lesen. Die Steinbrechermaschine erinnert an Arbeiten von Roman Signer, mich z.B. an den «Bergsturz am Calanda» 1987. Eine terrassenförmige Erhebung in einer Weide assoziiert den amerikanischen Land Art Künstler Michael Heizer, oder das frisch gedüngte Feld an den Maler Jackson Pollock. [laut Fricker] Es sind Bilder, die darüber Rechenschaft abgeben, dass der Blick des Wanderers, nicht nur des Künstlers, geprägt ist von seinem Wissensschatz, von kulturellen Hintergründen und seinen persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen. Und damit stehen wir mitten in einem der wichtigsten «Forschungsgebiete» Frickers: die Wahrnehmung und ihre Konditionierung. Seine Arbeit im Alpstein wird angetrieben von seiner unermüdlichen Suche danach, wie die Menschen dieses Gebiet wahrgenommen haben, wie sich diese Wahrnehmung manifestiert, z.B. in Namen, in Geschichten und Legenden, wie nachfolgende Generationen mit diesen vorhandenen Spuren umgehen. Im Wesentlichen will er sich aber auch seiner eigenen Konditionierung bewusst werden und diese wiederum in den Kontext aller anderen zurückstellen.
Dieser Prozess spiegelt sich sowohl in den Fotografien selbst wie auch in den kleinen Texten, die auf Emailtäfelchen darin eingebracht sind: Es sind nicht erklärende Legenden im üblichen Sinne, sondern ganz verschiedenartige Texte, teils tagebuchartige, subjektive Beobachtungen, teils Notizen von gehörten Anekdoten, gelesenen Informationen aus Geschichte und Wissenschaft, teils eine Aufzählung von wundersamen Namen, usw.
Was H.R. Fricker früher direkt in den Aussenräumen einbrachte, Worte und Begriffe, welche die Wahrnehmung der Passanten irritierten, erfolgt nun im «künstlichen Raum» der Fotografie. Im Vor- und Zurücktreten, zu dem Sie als BetrachterIn gezwungen werden, wenn Sie die Bilder anschauen und zugleich die kleinen Texte lesen möchten, reproduziert sich die Bewegung des Blickes beim Wandern im Gebirge: Von der Fernsicht zur Nahsicht, vom Überblick zum Detail, vom Gipfel zum Weg. Es spiegelt sich darin auch die Art und Weise, wie Fricker sich in seinem Projekt bewegt: Die Gesamtheit des Kultur- und Naturraumes Alpstein und die unzähligen kleinen Dinge, aus der sich dieser Raum sowohl real als auch im Bewusstsein der Menschen zusammensetzt.
Es entsteht aber auch ein Wechselspiel und eine Pendelbewegung zwischen realem Raum ( dem Alpstein) - und Kunstraum ( der Ausstellung) - und wieder zurück in den realen Raum. Denn: Wer von Ihnen das nächste Mal im Alpstein wandert, wird nicht umhin können, das eine oder andere Foto, den einen oder anderen Text im Hinterkopf mitzutragen und wieder in Ihre Wahrnehmung der realen Landschaft einfliessen zu lassen.
In diesem Sinne bleibt die Arbeitsweise Frickers subversiv. Und zugleich macht sie eben diese unterschwellige Wirkung erfahrbar, indem sie offenbart, dass man immer mit einer Unmenge an Bildern und Vorstellungen im Gepäck unterwegs ist, welche den Blick prägen.

H.R. Fricker baut mit seinen Instrumenten und Strategien: d.h. mit der Kommunikation und deren Einfluss auf unsere Wahrnehmung, ein immer dichter werdendes Netz auf. Hinweise auf das am Ort Vorhandene werden mit unzähligen Bezügen zu Kultur und Kunst auch ausserhalb des engeren Kreises des Alpsteins geflochten, alles wird mit allem verknüpft. Etwas vom Wichtigsten scheint mir aber, dass er den Begriff des Museums um wesentliche Ebenen erweitert. Vom Haus zur Aufbewahrung von Kulturgütern wandelt es sich zu einer spezifischen Erlebnisform, die sich überall ereignen kann. «Museum» umschreibt in diesem Sinne eher eine geistige Haltung, einen bestimmten Bewusstseinszustand, in dem man sich an einem Ort bewegt, und in dem man einen Raum, ob Kultur oder Natur, betrachtet und wahrnimmt. Der künstlerische Akt besteht in der Ermöglichung und im Antrieb dieses Prozesses. So ist das Alpstein Museum einerseits ein alpines Museum im Sinne eines Ecomuseums, das an Ort und Stelle dem Besucher, der Besucherin Informationen vermittelt. Andererseits aber ist es ein ausserordentliches Kunstprojekt, das in vielfältigster Weise unsere Wahrnehmung beeinflusst und erweitert, und neue Erkenntnisse und Selbsterfahrungen ermöglicht. Und dafür möchte ich H.R. Fricker danken!

 

 

 


Die Laudatio wurde gehalten anlässliche der Übergabe des Konstanzer Kunstpreises 2002 an H.R. Fricker am 13. Oktober 2002 im Wessenberg Kulturzentrum Konstanz.
Copyright © 2002 bei Corinne Schatz
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