19940122 betrifft frankreich 1

lieber franz

 

 

nun. was die persönliche fiktion der realität ist, das ist nicht mein ding unbedingt. du weisst, dass sich mein intellekt doch ausschliesslich auf weltliche gepflogenheiten konzentriert und ich nicht das gescheiteste ist, was ich bin. darum möchte ich gerne noch ein wenig üben hierin und das gespräch zuerst auf profanere sachen lenken. denn diese sind es auch, die die menschliche existenz aufs geratwohl ausrichten und bestimmen. nicht etwa die kleinen entwürfe der seele auf eine istsache des geistes. das ist es, was ich sagen will. vor allem denke ich auch, dass bei genügend temperatur äusserlich, bei voller füllung der verdauungschläuche inside und bei ausreichend flüssigkeit in venen und nieren sich die lage der nation aufs schärfste verbessert. gut. man sagt, ein voller magen denkt nicht gern. das stimmt. aber wozu denn auch. du siehst nun, dass die alte revoluzzer regel, dass der hunger der beste antrieb zum umsturz sei doch etwas sehr wahres an sich hat. das stimmt also. darum und nicht desto trotz, sollen wir uns ursprünglich auf die umstände entwerfen. unser sein auf die erhabenheit des profanen projizieren. das nur vorweg.

> ich möchte deshalb erst einmal auf die biscaya und die azoren eingehen. und auf die fortpflanzungsgeschwindigkeit des frühlings, beziehungsweise seinen wanderschritt in der richtung vom süden gegen den norden für das gleichartige gelände in europa. dies natürlich durchschnittlich. man geht von einer geschwindigkeit aus, die 26 kilometer täglich ausmacht. um dies zurückzurechnen und einmal davon ausgegangen, dass sich bei uns der frühling, sagen wir einmal am 20. april persönlich einfindet, dann ist dieser selbige in pesenas, wo wir zu reisen hin gewillt sind, bereits früher dort gewesen. wir müssen also um ihn keine bange haben. ich gehe nämlichst einmal von etwa 780 kilometern aus. das heisst, man kann gut rechnen. bei der angegebenen geschwindigkeit haben wir den frühling über unserem schlossgut doch 30 tage früher dorten gehabt. also am 20. mars so ungefähr. du weisst nämlich, dass auch der frühling seine launen hat. er mach umwege. er kehrt ein und schläft aus. der nebel legt sich ihm in die quere, vielleicht auch ein regenguss. und das ist dann eben die behinderung seiner wanderung bis zu uns in den norden. im sommer natürlich, ist er schon längst über alle meere. auch norwegen hat den frühling schon soweit gesehen, dass es meint, er kehre gleich wieder um und gehe wieder zurück. dass man dann von einem herbst spricht ist selbstredend. und der winter marschiert dorten schon ab, wenns ihm gefällt. etwa gleich schnell wie der adebar und die schneeenten, die sich nach affrika aufmachen. nun, mein freund. das wetter sollte kein hinternis sein. über den regen, das gewitter und die fortpflanzungsgeschwindigkeit von gletschern in der heimat, kann ich dich gerne unterrichten. doch davon später. denn du sollst die lösungen meiner perfiden selbstneurose, meiner existenz in sich und meinem elenden leben nur in schritten offenbart bekommen. so lassen wir die wunder schlafen und unterhalten uns übers wetter, wie wenn nichts wäre. der nebel hier am see gibt jedenfalls genug zu erörtern und einen einfallsreichtum sondergleichen.

ein gruss: steinweg

 

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