19990208 betrifft aufarbeitung von restschulden

mein lieber franz

 

 

> der reihe nach habe ich nun so einiges aufzuarbeiten, das in der hitze des geschäfts hintanstehen musste. manchmal kommt man vom tausendsten in den tausendsassa und man kann sich gar nicht mehr halten mit neuen schreibereien. das tut dann weh und man sieht die eigenen grenzen und bezichtigt sich der amerikanischen oberfläche. so solls nun doch wieder nicht sein. und da uns noch viel zeit bleibt, muss ich insbesondere mir mühe geben, dich zu ernstnehmen und deine themen langsam zu reflektieren. auszudenken und anzuknüpfen. darum der reihe nach.

> kindisch ist das falsche wort. sagt meine hebe. sie ist nur erstaunt über unser fortschreiten in der geschwindigkeit und würde sich nie anmassen, davon irgendetwas zu taxieren. schon gar nicht abschätzig, sagt sie. denn sie liest unsere redlichen versuche zur vorbereitung mit vergnügen. und was sie vor allem erstaunt, ist die inhaltlichkeit. sie habe aber manchmal mühe mit deiner intelligenz, die du in deinen briefen mitbringst. sie hofft aber, dass du trotz der intelligenz im sommer weiterhin glacé schlonzst, das ist die terminologie der hebe, würfel spielst, süssigkeiten verzehrst und mit dem fischherr zusammen parallel (nun auf deinem gameboy) ein wettdrücken veranstaltest. dann habe sie mit deiner intelligenz keine probleme mehr, lässt sie ausrichten. das zu dir. und zu mir: sie kenne mich eben. und das ständige übertreiben meinerseits kenne sie doch nun schon seit jahren. ein verweis gilt da der eisenbahn von märklin und den spinntisiserten träumen von authentischen minilandschaften unter dem bett ... daher sei das ganze eigentlich gar nicht so schlimm. sie selber, sagt hebe, lege mehr wert auf intuition denn auf intelligenz. das nun, mein lieber freund zu dieser geschichte. zu den themen meint sie, dass wir an viele wichtige notwendigkeiten denken würden und das schon richtig machen. und falls sie ein problem mit uns erörtern wolle, tue sie das schleunigst kund. in frankreich gibt es also kein geschwürplatzen. und unsere ausrede haben wir gehalten. meine frau lässt an dieser stelle an dich herzliche grüsse übermitteln und hofft, dich mit dieser kunde beruhigt zu haben.

> ein zweites anliegen ist deine so kurz hingeschleuderte kurze annahme, dass mich der ernst hegelbach gelangweilt habe. hier möchte ich doch arg entgegentreten mit ein paar anmerkungen meinerseits. ich bin doch nur deshalb noch nicht ganz darauf eingetreten, weil mich das schicksal hegelbachs tief bewegt. nicht etwa seine aufzeichnungen aus dem spanien, die seine doña ines posthum zu veröffentlichen imstande ist, ihres ordnungssinnes dank. ich verstehe seinen schritt ins exil gut. vor allem wenn der schritt nach spanien geht und in die arme seiner doña ines. was mich bedrückt ist seine vorgeschichte. ich dachte, dass du mir aus dem herzen schreibest. und obwohl ich annehme, dass der wohnort ernsts mit tengor als pseudonym und sein alter eher dir zu stehen kommen, als mir. ist doch kreuzlingen eher schwierig darin unterzubringen. und sechsunddreissig jahre alt bin ich nun auch wieder nicht, will heissen, erst in dreien jahren beileibe. meine bedrückung beginnt mit diesen umständen von verschwörung. du, ich kenne das. und ich kenne die schlaflosen nächte auf törki, wie ich zu sagen pflege, wenn man sich im schweiss wälzt, schon beinahe im scheiss des alltags und vom tausendsassa ins hunderttausenden kommt. ich fühle mit hegelbach, weil ich weiss, dass ein abrupfen eines hauses, verbunden mit einer kündigung, ein schwieriger eingriff ist. wenn ich diesen fact nun mit rein profanen lebensdingen vergleiche, wie einer aufkündigung von freundschaft vielleicht, oder einem blöden hintenumenschnörren oder einer von unbekannt an der haustüre zerfetzten ketchupflasche, deren produkt so rot leuchtet, als dass du annehmen musst, dies sei der auszug aus aegypten oder ein piktogramm für einen bevorstehen mord, kannst du mich sicher verstehen. mir ist das passiert. als metapher habe ich deshalb hegelbachs los adoptiert und mich betroffen gefühlt. ich wollte dies deshalb unter den tisch kehren und lieber schweigen. bevor mir geschichten heraufkommen. und ein weiteres: ich weiss, dass alle weinschenks ein ohr haben, das ausführt und gegen das man sich nicht wehren kann. dies sind die unsichtbaren vollstrecker, denen man auch couteau oder hammer sagen könnte, fachexperten in sachen abtötungszeit und sterilisation von gefühlen. ich hasse sie. und je mehr ich sie mir vorstelle, umso klarer wird mir, wie sie ämter bekleiden und taten vollbringen, deren die welt sich in globo schämen könnte. es ist eine schande.

> was süsanné anbetrifft ist sie der inbegriff aller ursulas die ich kenne. sie ist alles verlangen und vergessen in einem. «man kann nichts erzwingen» muss ich da aus meinem hehren erfahrungsschatz als zitat anfügen. denn alle diese gestalten rufen nach vergleichen, nach überebenen der realität. seien sie metzgerstöchter oder pfarrfrauen, die süsannées nehmen den verstand eines einsamen menschen so in beschlag, dass sie im staub des lebens nach erdrosselung schreien. sie honigen und milchen und verträumen ganze nächte in deinem hirngespinst. es wird einem anders. so auch unserem ernst. ich denke, hätte er eine paula kennengelernt, er verlangte nach pastis oder mit einer kolumbianerin, einer mulattin von lieblicher gestalt, er hätte wertpapiere bei suchard sich angeschafft, der hautfarbe wegen. ich verstehe gut, dass franz durchdreht und von sophie faselt und alles soweit verdreht, dass er sie als zukünftige ex-frau bezeichnet. lucio dalla kann sich bei balla balla ballerino nie und nimmer gegen meine ständige erinnerung an diese wahnwitzig mütterliche ursula wehren. denn: er kennt mich nicht. und sie schon gar nicht! und das prättigau kann auch nichts für erinnerungen, die doch längst vergessen sind.

> kannst du nun verstehen, warum ich deinen ernst hegelbach als schön und durchdacht bezeichne. dass ich mich anhand seines schicksals erinnere, an gute und an schlechte zeiten, sagen wir einmal. an die spitzen der gefühlserektionen und ans abschlaffen im empfinden. well, mein ding. that's it, was du gemacht hast. und darum ist wenzels geschichte ein wurf. trotz des unausfindlichen weitergangs der geschichte. ich weiss, du hast da noch so einige spuren und spekulationen über den weiteren verlauf. ich bin ganz gehör, um nicht oreille sagen zu müssen (diesen namen kann ich schon gar nicht mehr hören).

[...]

> zum essen. wir lassen uns noch zeit. einverstanden. das théâtre muss reifen. und soll doch, wie du recht bemerkt hast, eine kleine improvisation noch beinhalten. einverstanden. trotzdem denke ich an felchen, forellen, seelöwen, seezungen, seenasen und haifische. ich denke an rebhühner, trutenhahnen, frösche und kraniche. ich flehe das wild im wald an, eine pause zu machen und sich in unserer küche vorzustellen. wir werden sie mustern und einer stellung unterziehen. tauglich und untauglich werden wir über sie verteilen ohne das urteil des UC (unexpected civilsation) abzuwarten. wir werden gott spielen oder wenigstens das schafott der küche übernehmen. dabei nehme ich gerne deine CLC II-version auf und tausche CLC als erstvorschlag um. es sind dies ja alles sachgeschäfte, bei denen man sich einigen kann. juhui. was ist denn fressen anderes als ein caressieren. in der küche, davor und danach. mit FAJ habe ich eher mühe. ist mir mein schamgefühl da doch im wege. FAJ treibt meinen inneren schwengel schon vor, bevor die hose am boden liegt. und dann wissen wir auch nicht, ob das haus nebenan der familie wild heerbrugg gehört, diesen rheintalerischen spannern mit operngläsern und nachtsichtgeräten (restlicht und infrarot!). man weiss nie. deshalb verzichte ich darauf lieber. wenn du hingegen FAJ auf das essen im garten beziehst, da bin ich sofort dabei. ist die schwengeligkeit des magens doch der beste heerführer im hungerland.

> du schreibst von hirschen am bach und rehen im dickicht. die wilde sau aus dem unterholz, der raucher mit dem zundholz. lauter vorstellung von leben, die dieses geradezu verlangt. im süden sogar ultimativ. eine schöne version von vision. ein traum bei lebendigem leibe. und realistisch. dieses gottgetun (oder wie sollen wir es etwa sonst nennen?) bauen wir ins théâtre ein. die männer, bewaffnet mit speeren verschwinden, nur mit lendentüchern angetan und erledigen das gefleuch in der wildbahn (einmal abgesehen vom täglichen job des ausmusterns der tiere, die in der küche schon gewartet haben) und bringen es zu tisch. beziehungsweise, das schauspielerinnenvolk, blutt und lockig, rennt herbei damit. gut: ich rufe so tuntig wie es geht «zu tisch, zu tisch» und dann setzen sich die nackten sachauspielerinnen uns auf den heissen schoss, (nehmen einen löffel soss) und löffeln uns voll. mit hingabe, versteht sich. deine exposition von s, w und dem j sieht gut aus. auch der fischherr ist einverstanden und das halb prinzliche weib ist ganz glücklich, nur stolzgewachsen und halbnackt in die szenerie eintreten zu müssen (sic!). e ist es zufrieden mit der bedienung. und wir alle schwärmen von dem wein des w. noch schöner sind nur noch die ungenannt bleiben wollenden gaben des zeus. sie regen den speichel an. just im kalten winter. just im blöden nebel am schwabenmeer.

> manchmal frage ich mich, ob uns bewusst ist, was wir da für szenerien uns ausdenken. es kommt mir vor, wie wenn in der schreibstube einer neuen glaubensgeschichte wir uns befinden. wir lösen den honig ab und das manna distillata, unser rebensaft sind suze und pastis und unsere fische sind die filetten und flanken vom frischen urgetier (gaudeamus urgetier). wir lecken den speichel der ewigkeit, obwohl wir wissen, dass auch unsere tage in sudenfrankenreich gezählt sein werden. sie sind nicht ewichlich. trotzdem versuchen wir, sie also solche zu tarnen. um uns zu freuen. und deshalb entwerfen wir solch unzimperliche traumvarianten. schon weil wir sicher sind, dass sich dies für uns alle erfüllen wird. im gegensatz zu anderen mitmenschen, die nach mal-orca fahren, oder in die ka-ribik. wir haben unser glück in der hand. wir haben köche die mitkommen und die die logistik im griff haben, wir haben fröhliche fischerinnen und einen fischherr und einen früchteschüttler. wir haben eine domaine (das kommt von demain). allso. was fürchtet ihr euch? gehet hin und nehmet (essts nur. is recht, wenns schméckt, essts nur!)

> nun denn. die friedfertigkeit des sommers lässt auf sich warten. und erst einmal kommt der frühling. du weisst: die fortpflanzungsgeschwindigkeit. bis dann werden auch die tage länger. so lang, dass sie nicht mehr aufzuhören wollen. ich bin darüber überzeugt und mich dessen gewusst. und die nächte verschwinden in einem rausch von wein und glückseligkeit. es wird ein sommer von ewiglicher frische werden. ein sommer voller erinnerungen an die natur. ein sommer, der die nächte des winters nachhaltig prägt. er will sich schon jetzo bemerkbar machen und singt metaphorisch einher: «in der spanischen spelunke speisen die sportler knusprigen speck.» oder: «die sorglosen sänger hänselten die sensiblen besiegten.» ich kann da nur noch eines sagen: «vingt coeurs au vainqueur, vingt cus au vaincu.» mit napoleons zitat grüsze ich dich von mir, dem einen steinweg, der dich grüsset, oh mein freund.

 

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