19940209 betrifft restschulden, restrisiko

mein lieber steinweg

 

 

> du hasst recht getan der reihe nach so einiges aufzuarbeiten, einmal zu sprechen und zu schreiben ohne trari trara und ohne improvisioniertes theater, weder mit goethe noch ohne napoleone schreibend zu mäandrieren durch die hoffnungsfrohen südfranzösischen ebenen, allwelche zwischen einem mittelmeer (eigentlich eine recht schweizerische angelegenheit, eine folge von gut helfetischen kompromissen wahrscheinlich, dass das gute meer nicht rechts noch links ist, noch auch so heisst und den mittelweg gewählt hat, um keinem zu nahe zu kommen: in diesem fall nicht afrika noch europa, noch auch vorderasien) und einem atlantik (welcher vor den füssen des atlas, also des daches der wellt liegt und sich erstreckt und nebst einem lauen golfstrom auch alles schlechte wetter auf dieser welt zu verantworten hat: oder wie war das mit dem kreislauf des wassers?) sich erstrecken und also ausbreiten und ausgebreitet liegen. welch erholsame idee die ehrgeistigsten projekte einmal beiseite zu lassen und an dem mehr emotionalen teil des geistes sich zu erlaben und erhaben sich zu sonnen in der lauteren vorfreude, die für einmal nicht durch vorbereitungen (tief im herrzehn wissen wirr selbst wie kindisch sie sind: im herr 10 = kinndisch) der eher dubiosen art getrübt sein soll. herrlich die sicht auf das mehr, herrlich die beherrberge im rücken.

> ich muss allerdings sagen (und das soll nicht eine neue debatte eröffnen, sondern will nur vermerkt sein, schliesslich sind wir wie wir sind und tun was wir tun müssen), also, ich muss sagen, dass ich es einfach nicht lassen kann, die rolle des briefeschreibers (des autors solch hochnotüberflüssiger corresondancen), und mitunter die des verfassers von faxen, ein bisschen technischer zu fassen und ihn auftreten zu lassen als monteur, als einen zusammenschneider (ab und zu auch einen wahrhaften zudamenschneider, oder damenzuschneider), einen wirrklichen eklektiker im geist (elektriker als gast), wobei ich ihn, und da liegt der unterschied zum einfallslosen zeilen- und ideenklauer, als eigentlich moderne autorenfigur auffasse, die jenen in der neuzeit fatalen drang nach originalität überwunden hat und sich die erkenntnis dass a) unter der sonne nichts neues zu holen ist und b) neues sich nur noch zusammensetzen lässt, dergestalt zu nutze macht, dass sie wirrklichst und ehrlichst aus dem alten schutt wieder neue gebäude zu bauen im stande ist. was jetzt zu schreiben bleibt ist eigentlich nur noch Ein Porträt des Autors als Mechaniker.

(nach kurzem unterbruch mit recht verpädagorenen dieskussionen geht es nun unvermietet weiter, immer weiter:)

dass ich hier und jetzt dieses porträt nicht schreiben werde hat mit folgender innigster überzeugung zu tun (die du, ich weiss es, liepster freund, theilen wirrst), dass nämlich der mechaniker, wie der autor, durch taten glänzen soll und nicht durch theorie (ex scribrifax brillat, non ex theoriae), was mich, also den autor in diesem fall, schleunigst darauf zurückführt, in einen prosaischeren ton zu verfallen und den stil des intermezzos, das uns doch versprochen hat, vieles weiter aufzuarbeiten was in der zwischenzeit in die zwischenräume gefallen ist, wieder aufzunehmen und zu einem ende zu führen. (versteh mich nicht falsch: nichts hat ein wirkliches ende, wie gar geschriebenes?)

> ich will also im folgenden, ganz so wie du es vorgemacht hast, zur entspannung und entladung der elektrischen situation, die nicht nur durch die inhaltlichen inhalte unserer schreiben um einiges aufgeladen hat, sondern auch durch die immer neu zu bewälltigenden mengen an (schreib- und) lesematerial, das durch den äther hin und her geht, einige punkte ansprechen und abhandeln, die in der luft liegen und dann ein weiteres thema anschneiden, welches an kühnheit dasjenige der fisch- und geflügelzucht und die verwendung des zuchtgutes auf unseren tellern, nebst der verwendung einheimischer gemüse jeden alters in unserer mediterranen ferienküche, bei weitem übersteigt.

> primo: es freut mich, dass du entgegen meiner ersten einschätzung ernst hegelbach gewürdigt hast. den satz, dass der hegelbach nichts mit lebenden (oder toten) personen gemein hat und also nicht nach dem wirrklichen leben gezeichnet isst, habe ich weggelassen, um nicht den eindruck zu erwecken, dass besagter ernst hegelbach nicht wirrklich gelebt hat. dieser widerspruch in sich macht den ernst hegelbach zu der widersprüchlichen person, die er nun einmal war. ich hoffe, die verwirrung hat nicht zu tief gegriffen und hat sich in der zwischenzeit gänzlich gelöst. die bemerkungen die du zu den frauenfiguren aus hegelbachs tagebuchaufzeichnungen machst, sind äusserst scharfsinnig. vor allem der hinweis, dass die von ernst hegelbach (erfundenen) geliebten frauen nach überebenen der realität rufen, ist vor allem insofern richtig, als wir davon ausgehen können, dass die frau, wie sie ernst hegelbach zeichnet, nicht exisieren kann, weil sie nämlich alle positiven eigenschaften, die individuell auf ernst hegelbach zugeschnitten und individuell mit ernst hegelbachs eigenen charaktereigenschaften kompatibel sind, auf sich vereint. doch zu hegelbach nach abschluss unseres théâtre improvisé mehr.

> secundo: du sprichst weiter unten von unzimperlichen traumvarianten. dazu muss etwas gesagt werden: «was wir uns erträumen ist, was wir erleben werden, spricht der herr. was wir essen, ist was wir sind und was wir trinken, was wir sein werden. also höret auf mich, brüder und schwestern, und esset und trinket, so werdet ihr sein. [...] der herr aber fuhr hernieder auf den garten pensenanz, mitten unter die brüder und schwestern und atmete den odem der wiesen und wälder, dann sprach er: nehmt das brot aus meiner hand und trinkt den wein aus meinem krug, brecht die frucht von meinem baum und esset und trinket. dann aber legt euch nieder und träumt meinen traum, den ich euch sagen werde. und siehe, die brüder und schwestern assen und legten sich nieder und träumten den traum einer neuen welt. es war die welt, die sie gesehen hatten.» [pos., 2, 1-8] es kann also sein, und das will uns der abschnitt aus dem buch positas lehren, dass die träume wahr werden, dass das, was wir für träume halten, das richtige leben ist. es soll uns nicht passieren, dass wir das richtige leben passiv versäumen, weil wir dachten es sei ein traum gewesen. doch richtig sagst du dann: wir haben das glück in unserer hand.

> terzo: ich freunde michs jetzt schon, dass terre sommherr sing/kt nichts summt: inder spannischen (spell)unke (sp)eisen (sp)ortler knusprichten sperck und sing/kt vorn zehn zwiebeln bezierzten. dass der sommherr sing/kt isst schön. mahnmal brüllzt er voll kr/lachen, mahnmal sch/treit er voll lusst und sackt: sieb/ten zommersohnnen senkhen ziebzehn sondersöhnne, senkt senkt: die sorgtlosen säng/ker. wass dicht frak/gen wolltee isst: sack/gt der sommherr haucht: zawanzig herrzen denn siegherr, zawanzig härscher dem besiehtherr. wennd herr das sack/gt, herr sommherr, dann isst er mein wüstherr, isst er mein bösherr schwätzherr. lasst milch sack/gen, dass dann, ich willst nichts mitten dem sommherr zu tuhn habent. schluss.

> ich will nun zu sprechen kommen auf ein weiteres thema, das unserer zuwendung bedarf, gerade im zuge der grossräumigen vorbereitung des ferienaufenthaltes. das thema, ich gebe es zu, ist ein sehr heikles und kann die emotionen hochgehen lassen. aber nun, da es einmal angesprochen ist, soll es nicht wieder verdrängt, sondern geradeheraus und direkt angesprochen werden: was sollen wir in den ferien miteinander reden? wir haben allerhand bereits ange- und besprochen: was sollen wir essen, was sollen wir spielen? wir werden uns überlegen müssen: wohin sollen wir ausfliegen? wir müssen uns die fragen des täglichen bedarfs stellen, natürlich. aber bei allen diesen fragen lastet die eine über unserem unternehmen wie das berühmte schwert: was sollen wir in gottes namen miteinander reden? solange unsere gespräche im rahmen der im improvisierten theater festgelegten dialoge verlaufen mache ich mir keine sorgen, solange wir männer bewaffnet sind auch nicht (denn eine waffe ist wohl selbstredend ein gutes argumente), solange wir würfeln und die würfelwürfe mit den vorgegebenen phrasen begleiten, kann ich mir die situation auch vorstellen und glaube, dass wir sie im griff haben werden (oh, ein kleiner hase. oh la la, una pikola strada zitta, che vola via ... usf.). aber was in aller welt werden wir sprechen, wenn die situation entgleitet, wenn zwischen den alltäglichen ritualen, in denen der traditionell-rituelle dialog stattfindet, plötzlich sich lücken, eigentliche löcher auftun und in blitzschneller entscheidung ein gesprächsthema und argumente und erfahrungen in ein freies gespräch eingebracht werden müssen, wenn dann gar ein gespräch unterhalten, oder vor dem versiegen bewahrt werden muss. was werden wir dann tun? wie gehen wir mit diesen leerstellen, diesen weissflächen auf der landkarte der (gehobenen) konversation um? wie werden wir uns verhalten, wenn wir nicht mehr wissen was sagen? mir bricht der kalte schweiss aus, wenn ich mir die langen südlichen sommertage vorstelle, die unbarmherzige sonne am himmel, der knochentrockene nachmittag steht auf der matte und ein wort ragt angebrochen, unwidersprochen, unerwidert in den raum: gross und mächtig, brutal lautlos lauernd und alles bleibt still ... sollten wir, so frage ich mich, nicht eine reihe von themen zusammenstellen, sie sauber vorbereiten, jeder für sich, vielleicht ein zwei proben abhalten, so dass wir im notfall, im falle eines diskussionsnotstandes, sofort auf ein vorbereitetes thema zurückgreifen können? ich meine, schliesslich werden wir auch eine notfall-apotheke mitnehmen, einen ersatzschlauch für das fahrrad und ersatzklingen für den rasierer, ersatzwäsche und waschmittel. wieso also nicht eine art ersatzthema für den fall, dass alle stricke reissen. ich meine wir wären gut bedient damit und schlage gleich ein paar themen vor:

a) chirurgie im täglichen leben, oder: operieren leicht gemacht (estelle zeigt die problematik der hausoperation an einem beispiel und stellt sich den publikumsfragen),
b) kochen in fremden küchen, oder: wo stehen die gewürze? ein erfahrungsaustausch (herr steinweg leitet die diskussion und berichtet aus seinem leben mit fremden gewürzen),
c) büromöbel, selber schreinern oder beim fachmann kaufen? (monsieur jean schreinert ein biedermeierschränkchen und stellt die auftretenden probleme zur diskussion),
d) fische aus dem tiefkühler, fische aus dem see. ist der selber gefangene fisch wirklich besser? (don mateo diskutiert mit den anwesenden die problematik des industriellen fischfangs),
e) klavierüben beim übertritt in die pubertät. lässt die pubertät noch ein anderes hobby zu? (doña mariana diskutiert das problem inderdisziplinär),
f) moderne kunst, eine chance für die volksschule? (wenzel berichtet aus seiner erfahrung und stellt die frage in den raum).

ich hoffe mit diesen themen (die liste kann selbstverständlich jederzeit verlängert und also ausgebaut werden) können wir eine ansonsten in erfreulicher vorfreude bereits sichtbar gewordene urlaubsreise gut bewältigen.

erhebliche grüsse (an die ganze familie und mit entsprechend zahlreichen grüssen in die versammelte runde): wenzel, ewig der eure.

 

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