19940211 betrifft ... hunt the hunter

mein lieber steinweg

 

 

> ich bin froh, dass ihr meinen vorschlag so verständnisvoll aufgenommen habt, schliesslich zielt mein sorge über den urlaub hinaus und will ein übergeordnetes ziel finden und treffen: das eigentliche lebensthema. wenn unser leben ein buch ist, wie wir es jeden tag lesen, denn davon gehe ich strengstens aus, und wir uns nachher überlegen, was uns der dichter damit sagen wollte, was er also versucht hat darzustellen, was ihm gewissermassen am innersten herrzen lag, im wirrklichsten verstande wichtig war beim abfassen seiner geschichte, beim konstruieren und elabornieren seiner handlung, dann versuchen wir mit hochfliegendem geist und tiefschlürfenden getanken herauszuarbeiten, welches thema, welches motiv denn nun wirrklichst dargestellt worden ist und was es für unser eigenes leben bedeuten soll und wie wir daraus lernen können. und genau hier liegt nun das eigentlichste problem: das buch unserers eigenen lebens erzählt keine geschichte, die offen vor uns liegt und die wir distanziert betrachten können, was uns nun zu der schwierigkeit bringt, dass wir sie nicht am ende, wenn sie abgeschlossen vorliegt, lesen und beurteilen können. wenn unsere geschichte aus ist, das heisst im moment des todes der hauptperson, sind wir nicht mehr imstande bücher zu lesen: geschweige denn, daraus zu lernen. für wen? für welches leben? woraus nun wiederum folgt, dass wir, arme irrende, arme suchtende unser thema zu lebzeiten erkennen wollen, dass wir zwingend erkennen wollen wie unsere biografie konstruiert ist, wohin sie uns führt und welchen motiven sie folgt (literarrisch gesprochen). da wir (zwei) aber nun wissen, dass eine solche motivik, eine solche ungeheuerliche absichtlichkeit und vorbestimmtheit, eine solche impertinente schicksalshaftigkeit nicht existiert, dass vielmehr das leben dem zufall und den zufälligen einflüssen und den zufälligen gegebenheiten gehorcht und nichts und niemandem sonst, ist es überflüssig nach diesen übergeordneten themen zu suchen und ich sage direkt: das einzige thema ist deshalb die zufälligkeit selber, der zufall an sich und wie er uns wirrbelt und bestimmt (bist du auch: arbiträr(e) determiniert heut) und in unwissenheit lässt und allein: was wir auch sind in diesem einen leben, von dem wir nie begriffen haben, woher wir es bekommen haben und wohin es uns bringt, wenn nicht aus dem schoss der erde in ebendiesen schoss zurück und zwar ohne religion und protestantisches jubilieren (gerade die protestanten haben uns per definition verdammt zuviel versprochen und es ist kein wunder dass wir uns distanziert haben!), sondern rein wissenschlafftlich gesprochen und das leben verstanden wie den schneemann, der an sich aus dem wasser kommt und dahin zurückfliesst (dass auch der mensch eigentlich nicht asche ist und staub sondern wasser wissen wir zwar, sind aber nicht bereit zu glauben, dass wir verdunsten nach dem tod). und überhaupt, verdammt: das beschäftigt uns ja auch nicht erst seit dem hôtel de la poste und dem herrn cioran in der schönen kellnerpose, der uns aufgetischt hat, dass die tischplatte sich bog und die bäuche sich wölbten, gerade so, als wollte er uns vergessen machen, wie die situation eigentlich (immer) war und (immer) sein wird, gerade so als wolle er, ausgerechnet er, uns vergessen machen, wie die dinge wirrklich stehen. und uns dann aber nachher trotzdem ins hirrn rein beten, mit wirrer stimme und nicht minder wirren gedanken, die uns unsere eigenen gedanken zuckersüss übergoldeten und uns tatsächlich, satt wie wir waren, alles um uns herum vergessen liessen, ausser vielleicht den prallen mädchen am schluss des umzugs zum nationalfreiertakt vor unseren fenstern. also habe ich geschrieben: «wirr aber w/erden suchten unsherr thema vergelblichst und w/erden finden nichts hals nimmer den einten saltz, der laut/et, in steiln geschreibelt und zu staubt geblorden auf dem geberge: es isst nichts drausser dem zufall, es isst nichts drausser: ess isst nichts.» schweigen. stimmen. schweigen.

> lass es mich so sagen: draussen fällt leise und beständig der schnee, eine traurige melodie weht durch die zimmer und ich überlege mir, möglichst ruhig, ob uns mit singen geholfen ist, mit liedern vom schätzeli/ bald truurig, bald froh. ich habe eben das lied gehört, worin es heisst: if only i could hunt the hunter ..., woran du erkennen kannst, dass es themen gibt in der musik, die, wie du sagst, über ein hu-li-di hinausgehen und ein nicht so jubilierendes bild von der wellt zeichnen und abfeiern. aber andererseits: was sollen wir uns um den inhalt der lieder kümmern, da es doch, denn darum sind sie lieder, auf die melodei ankömmt. diese erkenntnis wirf nun aber auch wieder die frage auf, ob denn mit einer süssesten melodei nicht gar subversive inhalte gewisser gesangstexte derart transportiert werden können, dass der sänger und der hörer beim singen geistig und seelisch involviert werden und zwar in einer art, in der sie dies nicht wollen würden, wenn sie denn davon wüssten. du siehst, auch dieses thema wirf mich hin und her zwischen den zwei polen, der arktis einerseits und der antarktis andererseits, wahrscheinlich wieder einmal zwischen einem kühlen analytischen intellekt hie und einem bebenden und aufbegehrenden gefühl da. ich möchte nicht so weit gehen die pinguine mit dem gefühl zu assozieren und die eisbären mit dem intellekt, aber du ahnst es, der vergleich kommt der wahrheit sehr nahe. jedenfalls sind die gebiete des geistes, nördlich der nördlichen polarkrise, jene ausgehnten eiswüsten, antipoden der eiswüsten der südlichen hemmnisphären, den gebieten des gefühls, eiskalt und öd und voller schrecknisse, denn hinter dem eigentlichen polarrand schauen die basilisken und lindwürmer schaurig lechzend hervor und zeigen sich uns und führen sich uns vor als die ausstülpungen unseres kranken geistes. auch am südrand dieser wellt pfeifen und heulen furchtbare geschöpfe, deren einzige absicht es ist, uns zu verwirren und uns irrezuführen: du hast das wasser getrübt, sagte der wolf und frass das schaf. überhaupt ist es von höchster stelle die erhebliche absicht uns zu verunsichern. die einführung einer höchsten stelle, die tatsächlich auch die kontrolle über uns hat, widerspricht nun zwar meiner erklärung, dass wir allgemein und ausschliesslich vom zufall abhängig sind, allein ich muss dazu sagen, und zwar flüsternd, dass die höchste stelle auch vom zufall abhängt und schon morgen vielleicht nicht mehr ist. der zufall hat alles gelenket, der zufall wird alles bestimmen. diese höchste stelle, die alleinige instanz erscheint in ihrer weltweiten wirkung vielleicht einflussreich: der herr (gott und christus) wird in der bibel allein circa 790 mal erwähnt, der herr (allgemein) dann zusätzlich etwa 80 mal. man muss leider aber auch sagen, dass ein franz kein einziges mal, und nicht einmal zufällig erwähnung findet. und das, scheint mir, steht doch als unumstössliches indiz dafür, dass die inflationäre erwähnung des herrn kaum einem plan folgen kann (ein david wird vierundneunzig mal erwähnt).

punkt. abruptes ende und gruss: euer bruder wenzel

 

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