19940325 betrifft hegelbachs leben bis hin zum tod

lieber wenzel.

 

 

was du mir über ernstens leben bis hin zu seinem tode in einer zweiten elegie schicktest, entspricht dem allgemeinen leben alsgleich einem leben von uns. das vorweg. die orientierungslosigkeit des hauptdarstellers in sich und in fernen ländern gleicht einer inneren fortbewegung des wandels von veränderungen. nur: hegelbach handelte leibhaftig, reiste und irrte alswie ein odysseus auf dem weltmeer (dem damaligen, natürlich) durch die landen südlicher gefilde. die aufzeichnungen gleichen einer jeden existenz, irgendwie. und doch: ernst hegelbach war, isoliert betrachtet, ein individuum spezieller art, um nicht zu sagen, eine specie rara.

> als pfarrsohn bin ich nicht gefeit, halt zu suchen in der schrift. ich bin auch nicht in der lage, zu behaupten, ein solches schicksal könne sich bei mir nicht einnisten und verwirklichen. gleich dem bettler, der tagsüber nach einer zwanzigernote dürstete, so habe auch ich mein verlangen nach ruhe und gerichtetheit in meinem wandel. dass mir hegelbachs schicksal deshalb oft nahe kommt und ichs verstehen mag, liegt daher auf der hand. was die schrift anbetrifft sagt sie in psalm 19 vers acht: «Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele; das Zeugnis des Herrn ist verlässlich und macht Einfältige weise.» Diese Passage erfüllt mich mit Trost und weist mir den Weg, nicht trostlos und verlassen sterben zu müssen.

> was die einsamkeit anbetrifft, bin ich stutzig geworden, beim studium deiner aufzeichnung. erstmal, natürlich, denn du erklärst die folgeumstände adäquat und ehrlich fortschreitend. stutzig deshalb, weil du schreibst, dass ernsten sich mit der frühlingskönigin doña ines verheiratete und dann doch einsam starb. nun, da ich fertig gelesen habe, sehe ich schnell, dass ein solcher umstand möglich wird, wenn man auch vor der ruhe und einem status urban davonrennt, obwohl dies einige zigtausend junge gesellen weltweit wohl nie verstehen mögen. dass da in seinem grabstein dann ein name zu lesen ist und sonst nichts erinnert mich an die geschichte mit henri heine: «…steht da gross, ein grosser name, und darunter nur frau heine.» (biermann). der vorteil eines einfachen namens ist die einfache beseitigung von erinnerungen. der fortschreitende verzicht allen andenkens an eine person, dem auch wir unterworfen sein werden (ausser einer wird noch verdammt berühmt), hat den vorteil des ewichen lebens irgendwo, das verschwinden allen gedärms und geblüts (flgl.: arno schmidt: tina). dass dies, mich einfältigen, wohl ebenso glücklich wie weise macht, ist ein gewinn. ein lottogewinn mit sechs richtigen treffern. und beruhigt. die grabesinschrift «Von Erschöpfung und Verzweiflung gebeugt…» könnte auch in diesem falle mataphorisiert werden mit «Viele Veilchen verwelken verlustlos.» nun. ganz einsam in der erinnerung ist ernstlemann nicht von hinnen gezogen. schliesslich hat er doch noch seine doña ines, die seiner gebeine ebenso zollt, wie seiner niederschriften. ein rührige sache, irgendwie. und ich denke, sie entspricht dem leben wohl ebenso, wie irgendwas.

> wie don ernesto hegelbach sintemalen notizen chronologisch und adäquat sammelte und notierte kommt einem bräker ebensogut zu stehen. der eine, arm und im tokkenburg, ist der andere: reich bestückt an fleischlichen verführungen und im reichen spanien. nur: die gedanken gleichen sich. und die armut an entfaltung ist parallel. ein schicksal hüben und drüben der grossen berge. eine trauertragödie, die letzlich endet. und was dazu geführt hatte, nehmen wir dankbar für bare münze, auch wenn dies letztlich nichts hilft. nur, wir ergötzen uns ob all der orientierungslosigkeit und armut, nicht im geiste, so doch im beutel. zudem erinnern mich die fortschreitenden umkehrungen seiner notizen, wie «keine idee, keine identité» und «sag nichtz, sag nichtz» an den luriker und lurenluller uetz (*1963, romanshorn, ende des 20. jhd.), der die negation in seinen schöpfungen gleich mitliefert: eine solche auftischerei des nonexistenzes, der sich kühn und fesch an das sein schmiegt und mit ihm beischlaf sucht, entspricht derselben einfachheit, wie abgewaschene teller in der küche, die sich ihrer schmutzigen vergangenheit erinnern. diese existenzielle metamorphose, das ausschlüpfen des immatriellen aus dem cocon der entwicklung, ist logisch und einfach zu verstehen. deshalb findet sich ernstens notizgehabe im bereich seiner reise von der katalonischen hauptstadt bis nach toboso im bereich der möglichkeiten. es muss nicht jeder ein meister sein (das sei eine quintessenz, die zu widerlegen mindestens einen nobelpreis verdiente).

> mit eklektrikern habe ich meine mühe. du weisst. über sie zu sprechen bereitet mir mühe, auch wenn sie hansel heissen. lieber sind mir elektriker, obwohl auch sie ein gleiches tun, einfach mit einer nützlichen materie in der hand. machen letztere einen fehler, kann dieser sie mit einem stoss bis über die erregung hinaus in die erde befördern (man denke hier an verkohlte bratwürste im garten, die fälschlicherweise im kompost landen). was man dem sandel hingegen positiv anrechnen kann, ist sein besuch am grab. was nicht: er schickt unserem helden einen jungenhaften journalisten hinterher, der sich verlieben und selbsttöten soll. eine schaurige geschichte. «Sie brachten aber auch die Kindlein (wohl: Knäblein) zu ihm, damit er sie anrühren möchte.» (Lk. 18; 15) steht in der schrift; und weiter: «Als die Jünger das sahen, schalten sie sie.» (ebenda). du siehst: kuppelei in diese richtung wurde auch von den jüngern nicht gutgeheissen. in unserem falle: wer sich in einen verheirateten manne verliebt, verliert also unweigerlich das leben. er muss über die klippe springen.

> noch einige anmerkungen zum traum mit dem ritter und dem spiegel. ich denke, dass sich gerade spanien hervorragend für solche szenarien eignet. unweigerlich bieten diese sich an. was für die einen windräder sind, bedeuten anderen spiegel. spanien scheint traurige berühmtheit zu erlangen, was dies alles betrifft. eine doña sentilda, unverheiratet und nicht in erwartung, könnte aber auslösender faktor für den spiegel gewesen sein. mindestens ihre verwandtschaft. denn nicht jederfrau hat das glücke, einen mann aus dem norden heiraten zu dürfen (merk dir das für die ferien. es ist ein gutes omen für dich. und denk ans hôtel de la poste, wo die bauernmädchen tanzen und warten auf die herren pädagogen aus dem fernen ausland). meine mutter sagte: «sohn. pass auf. deutsche frauen machen sich gern an schweizer heran. denn sie wollen sie heiraten.»

> ich plädiere für einen natürrlichen tod unseres ernsts. trotz seiner irrungen hat er ein schönes leben gefristet. wer eine spanische ines geehelicht hat, geflohen ist vor wind und wetter, sich hansel und seinen eklektischen ergüssen entwunden und sich eines liebhabers erledigte, der kann nur glücklich gewesen sein. oder würdest du eine andere definition von glück für angebracht halten?

> was die ferienvorbereitungen im speziellen angeht: bald können wir wieder die erörterungen über nebensächlichkeiten aufnehmen. einleitend möchte ich dir daher die besten grüsze eines jean (pignon) ausrichten, der morgen morgen nach indien fliegt und hofft, auch wieder zurückzukommen. namens jeans darf ich dir ausrichten, dass wir ab dem kommenden sonntag nur noch einhundertelfmal schlafen müssen, bis es losgeht.

> zudem herzliche grüsze: steinweg.

 

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