19940420 betrifft lügner und narren usf.

mein lieber steinweg

 

 

> gerne versetze ich mich jetzt, wo ich alleine hier in meiner schreibstube sitze, in die gesellschaft jener geschätzten klugen freunde unter denen du, mein freund steinweg, an erster stelle stehst. auch fern von dir erquickt mein geist sich nicht weniger an dir als damals während unseres täglichen umgangs. ich wüsste nichts, was für mich je beglückender gewesen wäre als deine freundschaft. da es mich nun drängt, etwas zu schaffen, kommt es mir durch dein schreiben in den sinn, der moria, also der torheit, ein lob zu singen. du hast, lieber freund, den gesang angestimmt, ich werde kräftig mitsingen. [also spricht erasmus aus meinem mund!]

> nach allerlei abschweifungen schreibt erasmus dann: «Es geht so weit, dass das gleiche Wort, das im Munde eines Weisen zu einem todwürdigen Verbrechen würde, im Munde eines Narren unglaubliches Vergnügen hervorruft.» daher, mein lieber steinweg, und nur daher, leiten wir unser recht her, einander, auch noch bis tief in die nacht und auch mehrere male in der folge, die närrischsten briefe zu schreiben und darin die närrischste welt darzustellen, die narren je gesehen haben und die sich jene einfalltslotsen grauen-(haften) normalbürger (hinter arbeit und lebensrechtsfertigung herhetzend), die unser bild von dieser welt alltäglichst in den abgrund reissen, nie und nimmer vorstellen können, die in der blossen angst sich andere als ihre ärmlichsten welten vorstellen zu müssen, krank werden. «Doch kehren wir zur Sache zurück! »

> wenn ja nun erasmus das lob der torheit singt, so verurteilt abraham die narren doch mit fester stimme: «Dergleichen verlogene Narren werden schon erfahren / wie theur sie solche Lugen werden müssen bezahlen.» er ist halt ein gläubiger mensch (doch immerhin mit einer scharfen zungen und ohne berührungsängste: ein seltner christ). und der gerechte und rechtgläubige philokles durch dessen mund lukian von samosata spricht, zeigt ebenfalls unverständnis, denn er weiss für die lügenhaftigkeit seiner mitmenschen keinen andern grund anzugeben «als ihren Unverstand; denn es muss doch wohl dem an Verstand fehlen, der das Schlimmste [die Lüge] dem Besten [der Wahrheit] vorzieht.» den armen lukian, das heisst eigentlich den tychiades, schmerzt es in der seele, wenn gelogen wird und er bedauert sehr, dass sogar berühmte männer lügen aufgeschrieben haben.

> doch alle solche abwägungen, das sind lob- oder hasstiraden auf das narrentum und die torheit, haben keinen wert, wenn man bei herrn flögel nachliest, was er in seiner narrenpredigt sagt und feststellt, nämlich, dass der herr schuppius, seines zeichens ein seelsorger in hamburg, gemeint habe, dass «in der Welt fast mehr Narren als Menschen» wären (Schuppii lehrreiche Schriften, S. 1121). und dann, oh höre und staune, kömmt selbst herr flögel auf den erhabenen abraham zu sprechen, welcher, wie bereits zitiert, sich selbst als den grössten unter den narren erkennt. dass er den erasmus nicht erwähnt hat, ist ein versäumnis ohnegleichen. denn zu seiner zeit existierte das loblieb erasmus bereits seit nahezu dreihundert jahren! so lange halten sich narren auf in der welt und werden doch vergessen. womit ich sagen will, dass jener karl friedrich flögel der narren einer der grössten sei, da er nicht einmal seinen ungleich berühmteren narrenvater erwähnt hat.

ich, mein lieber froind, werde dich nie vergessen und auch deine lieblichste familie nicht, allwelcher du bitte meine gepflogensten grüsse entrichten mögest: franz wenzel.

 

Chronologie:   [letzter Brief]   [nächster Brief]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel - David Steinweg: Die Frankreich-Korrespondenz]

 

 

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel (1960-1999)]

 

 

 

 

[zurück zum wortwerk]    Copyright 2000 bei wortwerk