Iokter Sandel. Eine biografische Skizze
von Matthias Kuhn

 

 

Iokter Sandel wurde als Jodok Sandel 1951 in Starberg geboren. Er war ein mittelmässiger Schüler («Jodok ist willig, braucht aber noch viel Zeit.» Zeugnis Erste Klasse), ein exzentrischer Jugendlicher («Nicht in der Schule, im Leben lernen wir.» Kommentar Sandels zu seiner Mittelschulzeit) und ein extravaganter Medizinstudent («Ein hochprozentiger Geist wohnt in einer gesunden Flasche.»). Er promovierte 1979 mit einer Arbeit über den Einfluss der Staubmilbe auf die menschliche Gesundheit («Was man nicht alles tut, um berühmt zu werden ...» Kommentar Sandels zu seiner Doktorarbeit).
Sandels intellektuelle Verfassung pendelte, wahrscheinlich zeit seines Lebens, zwischen schierem Schwachsinn und genialischem Erfindergeist. Diese Tatsache, viele seiner Weggefährten erlebten nur eine Seite Sandels, nämlich seine grenzenlose Arroganz, veranlasste eine Studiengefährtin zu der Aussage: «Sandel ist wohl der arroganteste Sack, dem ich je begegnet bin.» Sie sagte später: «Der war so unglaublich von sich eingenommen, dass er schon wieder bescheiden war.» Oder: «Da traust du deinen Ohren nicht, dieser zynische Biss, dieses dialektische Denken, Wahnsinn!» Alles in allem sind diese abweichenden Einschätzungen typisch für die völlig unfassbare Person Iokter Sandel.

Nach seinem Studienabschluss hat sich Sandel vor allem mit grotesken medizinischen Erfindungen hervorgetan. Er erfand neben der bereits erwähnten, und völlig unbrauchbaren, präserwattierten Schwanztasche mit integriertem Scrotalbeutel (die wahrscheinlich als Verhütungsmittel missverstanden wurde), allerlei Geräte für die Arztpraxis und den Operationssaal. So unter anderem eine, im übrigen heute überall verwendete, Absaugvorrichtung für überflüssiges Fett, einen sogenannten Nabelinduktor, der das Erfassen sämtlicher Körperdaten (Puls, Blutdruck usw.) mittels Stromstössen über den Nabel hätte ermöglichen sollen, sowie den Brainexpander, ein unmögliches Gerät zur Stärkung der Gehirnfunktionen mittels schwachfrequenter Schallwellen.

Daneben trat Sandel auch als Theoretiker in Erscheinung. Er gilt als der Verfasser so dubioser medizinischer Schriften wie «Der Sternenhimmel im Bauch. Zusammenhänge zwischen den Organen und den Sternbildern», «Die Zunge als Poschti», «Für eine Philosophie der Verdauung. Eine Elukubration».
Auch als Literat versuchte sich Sandel. Unter dem Pseudonym Max Delsan gab er einen Band mit Gedichten heraus («Der lange Hals des Mondes. Gedichte für den Feierabend») und zwei ambitionierte, freilich kaum gelesene Romane («Starberger Trilogie» (davon nur der erste Teil) und «Sophies Tische. Verstrickungen»).
Selbst als Maler hat sich Sandel versucht, ohne Erfolg. Ausserdem spielte er während des Studiums in einem Jazzquintett Trompete.
Alle diese Tätigkeiten wurden ihm aber zuviel, er kündigte 1990 seine Stellen und Verträge und zog nach Tengor aufs Land. Dort traf er in der Folge mit Franz Wenzel zusammen. Sandel hörte allerdings nicht auf zu beteuern, dass er Wenzel schon viel früher begegnet sei, er habe ihn nämlich, an einem selbst für die Jahreszeit kalten Dezembersonntag im Kreisspital Tengor, unter den lauten Schreien seiner Mutter, ans Tageslicht befördert. Wenzel hat auf diese abenteuerliche Behauptung hin immer bloss gesagt: «Man rechne.»

Bereits 1993, nach dreijähriger intensiver Freundschaft, wie Sandel beteuert, verloren sich ihre Wege wieder. Sandel blieb zwar in Tengor, wandte sich aber mehr und mehr einem introvertierten Studium der «medizinal-philosophischen Geheimwissenschaften», wie er sich ausdrückte, zu. Wenzel gegenüber sagte er später in Barcelona, er habe sich damals intensiv mit «magischen Heilmethoden» befasst. Von Zauberei und Hexerei wollte er nichts wissen. So blieb beiden kaum mehr Zeit, als für kurze Gespräche vor der Post oder der Bäckerei. Sandel heiratete 1994 überstürzt, die Ehe zerbrach jedoch nach einem halben Jahr wieder, was dazu führte, dass Sandel sich noch mehr in seinem Haus am Rand von Tengor einschloss und praktisch keine Kontakte mehr pflegte. Sandel verpasste sogar Wenzels Abreise aus Tengor.
In dieser einsamen Zeit muss er zu jenem Sonderling verkommen sein, den Wenzel 1996 in Barcelona traf und den er in seinen Notizen als den « beliebten (und nicht minder beleibten) zitzenprinzen, den rhythmisch magische sprüche murmelnden iokter sandel aus meiner kleinen erzählung ernst hegelbach in spanien» bezeichnete. [Die erwähnte Erzählung hat Wenzel wohl nie ausgeführt. Es existieren verschiedene Notizen («Orangen und Zitronen nicht vergessen!»), aber die Erzählung selber konnte in den nachgelassenen Schriften nicht gefunden werden. Wahrscheinlich hatte Wenzel vor, seine Reise nach Spanien für die Erzählung zu verwerten. Ernst Hegelbach wäre dann das Alter Ego von Franz Wenzel geworden. Diese Überlegungen sind nicht überprüfbar und deshalb Spekulationen.] Sandel hatte sich mit seiner Abreise nach Spanien nicht nur von seiner Heimat verabschiedet, sondern auch von seinem bisherigen Leben, das er in Spanien komplett neu zu ordnen gedachte. In einer geradezu hellsichtigen Notiz, die er Wenzel, durchaus als Kritik (denn als Selbstkritik oder -reflexion muss sie geschrieben worden sein) gedacht, zusteckte, formulierte er: «Ein Mann der seine Probleme zu Hause nicht zu lösen imstande ist, hat nur eine Möglichkeit: Er haut ab in den Süden. (siehe Literatur der Siebziger und Achtziger Jahre unter: wehleidige Männer.) Illusion (der alle Hauptarschlöcher erliegen)! Im Süden, und das ist tragisch (oder komisch), findet der Flüchtige nur das, wovor er floh.»

Sandel muss sich, bevor er mit Wenzel zusammentraf, bereits einige Monate in Barcelona aufgehalten haben. In dieser Zeit kam er, wie wir sahen, immerhin zu der Einsicht, dass seine Probleme ihn nach Spanien verfolgt hatten, und er sie hier nicht so leicht wie gewünscht loswerden würde. Die Last seiner Probleme machte ihn zu einer, wie Wenzel schrieb, «unerträglich blasierten primadonna». Mit Sandel zu verkehren sei zeitweise eine Qual gewesen. Dass sie sich von Tengor her gekannt hätten, sei der einzige Grund dafür gewesen, dass er Sandel einigermassen habe ertragen können. Andrerseits wissen wir aus Sandels Notizen, dass er gerade in dieser Zeit, seine eigene Person betreffend, doch zu einiger Einsicht gekommen ist. Die Diskrepanz zwischen seinem Denken und seinem Auftreten, also seiner Wirkung auf andere, meint Wenzel, sei schon in Tengor, wenngleich er dann ausgeglichener gewesen sei, mindestens auffällig gewesen.

In Barcelona hat sich Sandel nach eigenen Angaben vor allem auf Friedhöfen, in Kirchen und Parks aufgehalten. An den Friedhöfen habe ihn die Ruhe fasziniert, an den Pärken die Betriebsamkeit, in den Kirchen sei er ganze Nachmittage gesessen und habe «seiner inneren Stimme gelauscht». Es sei ihm jedoch nicht gelungen, sein «grässliches Leben» abzuschütteln. Erst nach und nach kam Sandel soweit zur Ruhe, dass er beginnen konnte, den einen oder anderen Gedanken zu notieren, und sich damit, wenigstens ein Stück weit, von den immer gleichen, und per se weitgehend unlösbaren Fragen zu entfernen. Erst in Galicien allerdings, drei Jahre später, am Grab von Franz Wenzel, sagte Sandel, nun soweit über der Sache zu stehen, dass er seine «Memoiren schreiben, und ein neues Leben beginnen» könne. Darüber, was ihn in den Jahren, nachdem Wenzel aus Barcelona verschwunden war, soweit gebracht hatte, wollte Sandel nicht sprechen, dies sei eben das Thema seines geplanten Buches. Er machte nur dahingehend einige Andeutungen, dass er viel gereist sei, in Spanien vor allem, aber dann auch nach Buenos Aires, und in die Vereinigten Staaten. Vielleicht kommt die grössere Ruhe und die wiedergewonnene Selbstsicherheit Sandels daher, dass er für sich den Zustand des Reisens, des Unterwegsseins, zum Normalzustand erhoben hat. Sandel sieht den Zusammenhang zwischen dem Reisen und dem Denken darin, dass die beiderseits notwendigen Bewegungen sich gegenseitig bedingen und stimulieren. «Reisen ist Denken. Man bewegt sich von einem Ort zu einem anderen, wie man sich von einem Gedanken zu einem anderen bewegt. Manchmal bewegt man sich gradlinig, manchmal mit Umwegen, mit unnötigen oder nützlichen, mit beschwerlichen oder lustvollen Umwegen, zum Ziel.» Und: «Wie soll man Denken können, wenn man stillsteht? Im Stehen stehen auch die Gedanken.»
Mit diesen doch mehr abgeklärten Überlegungen kommt der Verdacht auf, dass Iokter Sandels Leben insgesamt stand und fiel mit seiner intellektuellen Verfassung, dass gewissermassen sein Denken ihm das Leben erschwerte, und nicht die äusseren Umstände, wie er selber in Tengor noch vermutet hatte, als seine kurze Ehe in die Brüche ging und er schrieb: «Hat sich denn alle Welt gegen mich verschworen? Will sie mich zerstört und vernichtet sehen?» In diesem Sinn ist seine Entwicklung vor allem eine psychische und mithin emotionale. In Barcelona schrieb er: «Ich misstraue meinen Gefühlen. Ich misstraue dem, was ich empfinde, weil ich meine Gefühle mit meinem Kopf, meinen Gedanken, nicht übereinbringen kann.» Damit erst beginnt Sandel seine Probleme auf sich selbst zurückzuprojizieren und sie zu verarbeiten, damit wird ihm erst bewusst, dass er selbst sein eigentliches Problem ist.

Die wenigen Leute, meist Schriftsteller und Journalisten aus der Umgebung der CELES, mit denen er verkehrte, sagten übereinstimmend, sie hätten, wir wissen, dass es nach der Abreise Wenzels war, einen neuen Sandel kennengelernt, einen immer einsichtigeren, wenn auch scharfen, Redner, einen einfühlsamen Freund. Carlos Derobàr, ein Journalist aus Barcelona, erzählte, dass er Sandel über längere Zeit jeden Morgen beim Barbier getroffen habe, den Sandel in immer neue Gespräche über aktuelle oder auch philosophische Themen verwickelt und ihn dann mit den unglaublichsten Argumentationen «in die Knie gezwungen» habe.
Offenbar hat es aber trotz allem auch den alten Iokter Sandel noch gegeben, wie Hernandez Diaz, ein junger Mediziner, der einige Zeit in der gleichen Pension wie Sandel gewohnt hat, erzählt. Sandel habe über die Einfalt des Dienstpersonals unbändig lachen können. Immer wieder habe er die Zimmermädchen mit schwierigen Fragen in Verlegenheit gebracht und ihnen dann offen ins Gesicht gelacht, wenn sie die Frage nicht verstanden hätten oder keine Antwort hätten geben können. Freilich habe er es auch nicht verpasst, mit der einen oder andern Bediensteten ein «herrliches Schäferstündchen» zu geniessen, wie Diaz sich ausdrückte. Diaz spekulierte sogar, dass die ungewollte Schwangerschaft eines Zimmermädchens Sandel letztlich zur Weiterreise getrieben habe. Diese Behauptung konnte allerdings nicht bestätigt werden, da weder das Mädchen, dessen Namen Diaz mit Carmen-Maria Garcia angab, gefunden werden konnte, noch konnte die Geburt ihres Kindes an einem der Spitäler Barcelonas bestätigt werden. Wir müssen also davon ausgehen, dass Spekulationen dieser Art falsch sind.
Wie bereits weiter oben angedeutet, schweigt sich Sandel über die drei Jahre von 1996 bis 1999 aus. Erst an der galicischen Küste sehen wir ihn auf dem Begräbnis Wenzels wieder. Sandel wirkte ruhig und gelassen. Im Gespräch machte er den Eindruck als ob er abwesend sei, obwohl er konzentriert schien. Er deutete an, dass er wieder in die Heimat, ob nach Tengor oder nicht, konnte er nicht sagen, zurückkehren werde, um dort in Ruhe an seinen Memoiren zu schreiben.
Es wird uns also, wenn wir auch über diese ruhigeren Jahre Iokter Sandels mehr erfahren wollen, nichts anderes übrigbleiben, als auf die Veröffentlichung dieses Buches zu warten.

 

 

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