Die menschlichen Feinde: Franz Wenzel und das Theater
von Hanns Stenzel

 

 

«wie du siehst habe ich allerhand in das stück hineinzupacken vergessen und so ist es leider unvollständig geblieben. [...] [es wird] immer ein rumpf ohne arme und beine bleiben, ein kopf ohne schädelschüssel, ein knochen ohne fleisch. doch werde ich nicht ruhn, die nachträge zu sammeln und lange listen zu erstellen, die in den text, der schliesslich nichts weniger ist als ein kleines welttheater, hineingearbeitet werden müssen [...]. bevor wir tot gehen, werden wir sagen müssen: wir haben alles aufgeschrieben was wir konnten. es war nicht genug. die zeit hat nicht gereicht. es ist aus und vorbei. verbrennt unsere papiere!»
Franz Wenzel, in: Die Notizkartei (Entwurf für einen Brief an David Steinweg)

 

Über Franz Wenzel und seine Ambitionen, zumal seine theatralischen, zu schreiben, kommt einem Ding der Unmöglichkeit gleich. Wenzel hat den Entwurf (in Prosa) zu einem Theaterstück hinterlassen und sich ansonsten nie, weder schriftlich noch mündlich, zum zeitgenössischen Theater geäussert. Von seiner Witwe wissen wir, dass er nie ein Theater besucht hat, es sei denn im Sommer irgendeine ländliche Freiluftaufführung. Zwar sei, so Doña Anna, niemals das Stück selber der Anlass gewesen, nicht ins Theater zu gehen, sondern meistens die überaus «engen Platzverhältnisse in den Zuschauerräumen».
Auf dieser Basis nun eine Kritik aufzubauen, fällt ausserordentlich schwer und wäre letztlich gänzlich unmöglich, wenn Wenzel nicht zu seinem Theaterstück einige Anmerkungen, die in seinem Exposée zu jedem Akt als eine sogenannte «memorable note» auftauchen, und zwei Briefe, einen den er, offenbar mit dem Entwurf des Stücks, an seinen Freund David Steinweg gerichtet hatte, einen zweiten als Antwort von Steinweg an Wenzel, hinterlassen hätte. Diese wenigen Fakten müssen uns genügen, um uns in die Welt der menschlichen Feinde, in die Welt des Theaters Franz Wenzels einzuarbeiten.

Schon die erste Note (a memorable note on the first act) zeigt deutlich, dass Wenzel sich, entgegen unserer Kenntnis, intensiv mit dem Theater beschäftigt haben muss. Und gerade diese Notes geben uns letztlich die deutlichsten Hinweise, nicht nur auf die Beschäftigung Wenzels mit dem Theater, sondern überhaupt auf sein Denken. Denn, auffällig genug, stellt er sich in diesen Nebenbemerkungen über sein Schaffen und nimmt nicht nur die Stellung, sondern auch die Sprache des Kritikers und Literaturwissenschaftlers ein. Auf diese Weise kann er, gewissermassen mit einer dritten Stimme, in sein Stück eingreifen, und zu seinem Publikum sprechen. Leider wissen wir nichts darüber, wie Wenzel sich eine allfällige Aufführung des Stückes vorgestellt hat. Doch können wir annehmen, dass die Notes nicht nur an den Leser, der ja mangels eines Verlegers gar nie existierte, sondern an das Theaterpublikum gerichtet sind.
Wenzel spricht in dieser ersten Note von der vordergründigen Handlung (die «soweit klar auf der hand» liegt) einerseits und von einer zweiten Handlung, die andeutungsweise im Hintergrund ablaufe, sozusagen «im dunkel einer undurchdringlichen, theatralisch herausgearbeiteten tradition» stattfinde. Diese zweite Handlung lässt uns über vieles im Unklaren, denn sie beschränkt sich auf das andeutungsreiche Spiel und die Effekte einer «sinnreichen inszenierung». Wie sich bei der Analyse zeigt, trennt Wenzel diese Handlungen streng und zeigt uns im Vordergrund eine leichte Komödie, die auf Versatzstücke aus verschiedenen Theaterstücken und -texten der Literaturgeschichte aufbaut, und diese zu einem Ganzen nahtlos zusammenführt; im Hintergrund aber entwickelt er in einer Art zweiten, parallelen Realität eine unbewusste, eine «durch verdrängung [...] beiseite geschobene und vergessene» Handlung. Dass es bei dieser Verschachtelung eigentlich um die Hintergrundshandlung geht, scheint klar. Die Komödie, die uns dabei vorgespielt wird, soll «den sachverhalt, wenn nicht ironisieren, so doch abschwächen».
Bei Wenzel wird so die Bühne explizit zu einem Modell für unser Denken und Fühlen. Eine Vordergrundszenerie verdeckt ein Hintergrundgeschehen, welches die Vordergrundszenerie kritisch spiegelt und, im gegenseitigen Wechselspiel, letztendlich ad absurdum führt. Dieser sozusagen didaktische, oder dramaturgische Ansatz des Verständnisses der Wenzelschen Kompositionstechnik führt uns geradewegs zu dem bereits angedeuteten inhaltlichen Sampling, dass Wenzel betreibt. Die Komödie, die uns vor Augen geführt wird, ist montiert, ist zusammengeschnitten aus entlehnten literarischen Einzelteilen, die in einer Art Textmontage mit originalen Überläufen gekittet werden und so zu einem neuen originalen (Text-) Konglomerat verschmelzen. Dabei bleiben freilich, nicht zuletzt als Paten dieser neuen Dichtung, die Urheber als solide Basis bestehen. So konnten in «Die menschlichen Feinde» Versatzstücke aus Shakespeare (vor allem: Der Sturm), Wieland (Musarion), Goethe (Faust I), Schiller (Wallenstein), Kleist (Käthchen von Heilbronn) identifiziert werden. Zudem scheinen Inspirationen von Jonson (Volpone, oder Der Fuchs) bis Hofmannsthal (Der Schwierige) nicht nur naheliegend, sondern offensichtlich. Dieses technische Vorgehen Wenzels legt zudem die Deutung nahe, dass, gerade im Bewusstsein um die Erfahrungen und Einflüsse mit und aus der Literatur und nicht zuletzt auch der realen Welt, ein Verschmelzen von Gegensätzen und Ergänzungen in den Personen auf dem Theater, aber wahrscheinlich auch in der eigenen Person, nicht auf eine (wohlbekannte) kunstimmanente Künstlichkeit abzielen, sondern im Gegenteil eine zeitgemässe alltägliche und, eben der Technik des Samplings zufolge, eine vor allem multiple mediale Persönlichkeit meinen.

In dieser Anlage von gesampeltem Vorder- und quasi unbewusstem Hintergrund wird nun eine Handlung aufgeführt, die unser ganzes Mitdenken und Mitleiden fordert. Denn nicht zuletzt durch die Parallelität der Handlungen wird überdeutlich, dass «durch verdrängung nichts wirklich beiseite geschoben und vergessen werden kann». Wir sind also aufgefordert an der Handlung teilzunehmen, und die Unterscheidungen (eben zwischen vorn und hinten, zwischen bewusst und unbewusst) selbst vorzunehmen.
Diese Handlung führt uns, wie der Autor selbst anmerkt, durch einige «irrungen und wirrungen» direkt «zurück zum Leben». Dies wird in zwei (beliebigen) Beispielen deutlich.
Einerseits ist die Jugend (der Knabe und das Mädchen) auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Wenzel notiert dazu (a memorable note on the third act): «die kinder sind an den ereignissen gewachsen, während wir die erwachsenen ein wenig ohnmächtig und hilflos herumstehen sehen. immerhin ist der teufel besiegt und das übel damit beseitigt.» In übermütigen Spielen finden sich die Kinder, im Stück Bruder und Schwester, plötzlich als gereiftere Jugendliche wieder (Vierer Akt) und sind schliesslich dort angekommen (Fünfter Akt), wo die Erwachsenen das Spiel begonnen haben. Ohne grosse Umstände ist so das Lebensalter des Menschen dargestellt, von der Unschuld der Kindheit bis ins reife Alter.
Deshalb geben eben andererseits die Erwachsenen (vor allem Ganymed und Hebe) ein gutes Beispiel ab, denn sie stehen im Begriff, ihren Zenit zu überschreiten. So naheliegend diese Deutung, auch in Zusammenhang mit dem Sturm (Vierter Akt) ist, so entschieden verwahrt sich Wenzel gegen solche Interpretation. Er schreibt zum vierten Akt (a memorable note on the fourth act): «offenbar geht es hier um eine kategorie von fragen, die im leben überhaupt keine antwort finden können. vor diesem hintergrund sind dann auch deutungen, die den verlust der tochter als deren ablösung vom elternhaus zu beschreiben versuchen, lachhaft und irrelevant, ebenso wie die zahllosen versuche, den letzten sturm als den höhepunkt des lebens, gleichermassen als den zenit menschlicher entwicklung, in das stück einzubinden, auch wenn diese wissenschaftler geltend machen, dass das gelage auf eine solche deutung nicht nur explizit hinweise, sondern sie geradezu herausfordere und wenn nicht zwingend, so doch wahrscheinlich mache.»
Plutos und Phanias spielen, obwohl ausgeprägt (wenn auch vergleichsweise offensichtlich) charakterisiert, in diesem Geschehen eine marginale Rolle. Allerdings ergänzen sich beide als eigentliche Widerparte in diversen Nebenhandlungen. Plutos verkörpert dabei den lebenslustigen Prasser, der immer guter Laune, immer zu einem Spass aufgelegt ist, während Phanias, durchaus auch zu einem Spasse fähig, doch eher der Zweifler, der Grübler ist, der freilich nicht an der Welt, sondern an sich selber, seinem eigenen Denken, seinen eigenen Fantasien, zerbricht.
Zu diesen Personen ist nun einiges geschrieben worden. Schon 1989 schrieb Samuel Kolleritsch: «Dieses wahrhaft bewundernswerte, aber wohl eher wundervolle als bewundernswerte Stück ist angesichts der Fruchtbarkeit und Tragkraft von Grundeinfall, Charakterzeichnung, Sprache und Geisteshaltung der stärkste Beweis dafür, wie unmöglich es ist, eine positive Anteilnahme an einer Geschichte aufrechtzuerhalten, in der keine der Hauptgestalten im Herzen tugendhaft ist.» Dann nahm auch Eduard Jung (in seinen «Mutmassungen über wahrhafte Komposition», Zürich 1992) das Thema, mit einem andern Augenmerk, auf: «Er ist sehr gelehrt, so wie Simson stark war - zu seinem eigenen Schaden: blind für die Natur der Tragödie, zog er das ganze Altertum auf sein Haupt herab und begrub sich selbst darunter.» Und später (wahrscheinlich 1995) schrieb ein anonymer Kritiker, der das Stück mit einem barocken Bauwerk verglich: «In diesem Stück geleitet uns der Verfasser in ein einheitlich angelegtes und ebenmässiges Gebäude, bemüht sich um unsere Unterhaltung und macht uns mit einer Gesellschaft bekannt, doch die Gemächer sind freudlose Gewölbe, die Speisen sind aus behauenem Marmor, und die Gäste sind Statuen.»
Das Stück nimmt, um wieder auf die Handlung zurückzukommen, seinen Lauf. Nach der Pause, und der Klammer, auf die wir noch zurückkommen müssen, drängt sich, weiter die Vorgaben der ersten drei Akte nutzend, ein weiteres Thema in den Vordergrund. Einerseits schreibt Wenzel selber, dass nun nach der Pause, mit der Besiegung des Bösen (im dritten Akt), eigentlich zwei erholsame und schöne Akte auf uns zukommen könnten, andererseits konstatiert er: «man ist nach diesem akt geneigt zu sagen, dass die freude, sobald sie sich wohlverdient einstellt, immer gleich wieder in aufregung, in leid, umschlagen muss. wir wissen, dass dem im wirklichen leben so ist und preisen das stück aus diesem grund als sehr lebensnah.» Dieses schicksalhafte Umschlagen des Glücks, des schönen Lebens, prägt die Personen im Stück für immer. Zwar entkommen sie knapp der Willkür eines unverständigen Femegerichts, doch sind sie von nun an gebannt und gefangen, wenn nicht gerichtlich verurteilt, dann doch in psychischer Befangenheit gebunden. Wenzel schreibt dazu unmissverständlich, dass die Schwierigkeit des fünften Aktes «in der transzendenten auflösung eines übersinnlichen glücksbegriffs» liege, weil «der unglückliche die glückseligkeit des glücklichen als verbrechen zu sehen imstande» sei. Das ist zweifellos eine Anspielung auf die Rollenrivalitäten zwischen den Männerfiguren und ganz und gar auf den Phanias gemünzt, der hier, ganz zum Schluss des Stücks ein einziges mal die Marginalität seiner Rolle zu Durchbrechen vermag und in den Mittelpunkt aufrückt. Dies allerdings nicht, indem er selber sich in den Mittelpunkt stellt, sondern nur dadurch, dass seine Skepsis das Glück der andern umso heller erstrahlen lässt.
Den schönen Schluss, der der sich anbahnenden Tragödie den komödiantischen Dreh gibt, behält die zweite Nebenfigur, Plutos, für sich, indem er nach einem Mahle ruft, das für alle Leiden entschädigen soll.

Das letzte Wort wollen wir dem Dichter überlassen, der in der Pausenklammer, über seine Arbeit hinausblickend, die Dichtung ins Visier genommen hat. Die Leserinnen und Leser mögen selber urteilen, inwiefern sie den Worten Wenzels zustimmen wollen, inwiefern er sich aber selber mit seinen Ausführungen verunglimpft hat. Die Pause des Stücks nutzend, unterrichtet Wenzel sein Publikum über die Qualität seines Stückes wie folgt: «der autor steht dazu, ein schlechter dichter zu sein und deshalb auch ein verfasser schlechter dichtung und möchte sein eigenes elaborat durchaus in der tradition schlechter dichtung sehen. nur fragen wir uns, was ist schlechte dichtung und wie erkennen wir sie? erstens: schlechte dichtung ist planlos. jedoch hält dem wieder unser herr lichtenberg entgegen: durch die planlosen streifzüge der fantasie wird nicht selten das wild aufgejagt, das die philosophie in ihrer wohlgeordneten haushaltung gebrauchen kann. sollte also schlechte dichtung nützlich sein? zweitens: schlechte dichtung ist langweilig. langeweile gehört nach dem herrn wahrig zu den schlimmeren mangelkrankheiten, da sie aus mangel an abwechslung eintritt. nun ist es allerdings so, dass sie als krankheit geheilt werden muss, in der dichtung allerdings bleibt sie unheilbar, und wir müssen davon ausgehen, dass der dichter die vermittlung der langeweile als stilmittel einsetzt und uns damit etwas sagen will, auch wenn es nur dies ist, dass er sich zu schlechter dichtung bekennt. drittens: schlechte dichtung ist wirr. schlechte dichtung gibt in fast allen bekannten fällen vor, dass unser leben keinen übersichtlichen linearen verlauf nimmt, sondern wirr und unübersichtlich ist. was schlechte dichtung damit erreichen will und weshalb sie zu derart verstellten und verzerrten darstellungen neigt, ist unklar, denn damit ist gar nichts zu erreichen. wie uns herr kluge belegt, liegt selbst der wirre herkunft im dunkeln und auch, was sie mit wirsch und wurst gemein hat. um eines klarzustellen: schlechter dichtung geht es nicht darum, auch nur einen der obigen punkte zu vermeiden oder auszumerzen, im gegenteil: wie wir gesehen haben, ist schlechte dichtung planlos, langweilig und wirr. wenn wir nun diese neuen beurteilungskriterien auf das drama von den menschlichen feinden anwenden, sehen wir deutlich eine dreifache erfüllung der beurteilungspunkte. was wir also geleistet haben, und dazu stehen wir, ist ein schlechtes stück dichtung. quod erat demonstrandum.»

St. Pelagiberg, im Januar 2000

 

Editorische Notiz:
Dieser Einführung sollen die in der Einleitung erwähnten Briefe von Wenzel und Steinweg, sowie, selbstverständlich, das Theaterstück, oder besser Wenzels Entwurf zu einem solchen, beigestellt werden. Dort finden sich auch, im Anschluss an den jeweiligen Akt, die im Text erwähnten Notes.

Brief David Steinwegs an Franz Wenzel

Brief Franz Wenzels an David Steinweg

Franz Wenzel: Die menschlichen Feinde - Ein improvisiertes Drama in fünf Akten

 

 

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