Die Traumkarteien (1ff.) [Das Nachtbuch]: Eine Auswahl
Abteilung Zwei: Traumprotokolle 1996-1999 (100ff.)
von Franz Wenzel

 

 

 

Die Zeitzeugin (106)

Ich sass in einer fremden Wohnung, sagt Wenzel, offensichtlich als Gast, an einem kleinen Tisch und blätterte in verschiedenen Dossiers und Fotobüchern. An verschiedenen andern Tischen und auf Sofas sassen andere Besucherinnen und Besucher. Die Besitzerin der Wohnung und also auch der Bücher und Dossiers, war eine sehr alte Frau, die zu der Zeit bereits gelebt hatte, als all die alten fotografischen Aufnahmen in den Büchern gemacht worden waren. Ich blätterte in einem grossen Band voller Fotografien, zwischen dessen Seiten pergamentene Umschläge mit weiteren Fotografien steckten. Auch Zettel mit handschriftlichen Notizen fielen mir auf. In einem der Umschläge steckten auch Aktfotografien, die offenbar in dieser Wohnung aufgenommen worden waren, von ehemals jungen Frauen. Ich hatte lange in den Büchern geblättert als eine Frau auf mich zu trat und mich bat, aus dem Buch, welches vor mir lag, vorzulesen. Die Hausherrin wandte sich nach mir um, die Leute verstummten und ich begann mit (mir unerträglich) langsamer Stimme zu lesen. Gegenstand der Erzählung war, das merkte ich erst mit der Zeit, die alte Frau und ihr Leben.

 

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Das Symposium (110)

Ich machte mich endlich von diesem Ort, von diesen Leuten los, sagt Wenzel. Die Gespräche hatten in einem viel zu engen Raum stattgefunden, wo kaum alle Platz gefunden hatten und es hatte dadurch ein heilloses Durcheinander geherrscht. Endlich hatte ich mich also losgemacht, sagt Wenzel, nach solchen Veranstaltungen renne ich immer nach Hause. Ich kam zwar ziemlich schlecht vorwärts, die Strasse war durch grosse Neuschneemengen beinahe blockiert, aber es machte mir trotzdem sehr viel Spass, den ganzen Weg zu rennen. Ich rannte von Tieftal her kommend durch Brühland bis nach Sturf hinauf. Noch vor der Ortseinfahrt nach Sturf begegnete ich einer Frau, die mit drei kleinen Kindern auf einem viel zu kleinen Traktor gegen die Schneemassen kämpfte. Endlich kam ich oben in Sturf an. Hinter dem Dorf standen auf einem Hügel zwei grosse mittelalterliche Gebäude. Im einen war das Gemeindekunstmuseum untergebracht, im andern war vor wenigen Wochen eine mir befreundete Familie eingezogen. Ich betrat deren Haus durch einem kopfsteingepflasterten Eingangsraum, trat in die Wohnräume, die alle sehr sauber und mit Teppichen ausgelegt, ansonsten aber leer waren. Ich suchte meine Freunde, traf aber zuletzt, im obersten Stockwerk, nur auf die kleine Tochter der Familie, der ich dabei half eine Zeichnung, die sie von einer Freundin erhalten hatte, gerade aufzuhängen. Das Mädchen legte sehr viel Wert darauf, dass das Bild, eine wirre Textzeichnung, so zu hängen kam, dass die Schriftzeilen genau horizontal verlaufen. Ich verabschiedete mich von ihr und verliess das Haus. [...] Ich trat am Morgen in einen besonnten Nadelwald hinaus, vor mir, am Fuss des Hügels die Klosteranlage von Sturf, zu der wahrscheinlich auch die zwei grossen Häuser in meinem Rücken gehörten. Zwischen den Gebäuden des Klosters herrschte, sagt Wenzel, unglaublich reges Treiben. Es war Markttag und offenbar waren auch Schausteller und Gaukler unter den Leuten. Auf dem Platz vor dem Klostertor war ein Spiel im Gange, das nur für die Frauen gedacht war. Aus Erdnüssen war eine etwa fünf Zentimeter breite und ebenso hohe, aber ein paar Dutzend Meter lange Mauer aufgebaut worden. Die Frauen zielten mit schweren Metallkugeln auf die Nüssemauer. Die getroffenen und also geknackten Nüsse durften jeweils gegessen werden. Ich traf, als ich vom Hügel herunter zwischen die Leute trat eine Bekannte aus dem Dorf, die ich am Tag zuvor schon auf dem Symposium gesehen hatte. Ich sagte ihr, dass ich das Symposium verlassen hätte, weil alle Beteiligten im Grunde so unglaublich desinteressiert seien. Ich traf dann im Hof zwei Kinder, denen ich versprach, dass ich ihnen die Zeitungen, die ich bei mir trug, überlassen würde. Ich bezeichnete ihnen einen Ort, wo sie auf mich warte sollten. Dann betrat ich schnell die Klosteranlage.

 

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Der Traum im Traum (112)

Ich wurde von einem mir befreundeten Ehepaar in deren geländegängigem Wagen abgeholt. Zusammen, sagt Wenzel, fuhren wir nach Stein hinüber. Die Strasse nach Stein führt aus einem Tal hinauf und erreicht dann, kurz vor dem Städtchen, das Hochplateau, auf dem Stein selber gelegen ist. Vor dem Städtchen in der Ebene gastierte in diesen Tagen ein Zirkus. Wir parkten unser Auto zwischen den Zirkuswagen und stiegen aus. Ich kannte die Direktion des kleinen Zirkusunternehmens von früher und freute mich auf einen Besuch. Wir wurden von den Leuten sofort freundlich empfangen und dann gleich aufgefordert, doch mit ihnen mitzukommen, da sie eben zu einem Besuch im Dorf Stein selber hätten aufbrechen wollen. Ich hatte das Dorf von früher gekannt, als wir jetzt allerdings zwischen die Häuser traten, fand ich mich in einem gänzlich unbekannten Dorf wieder. Wir folgten einer steilen kopfsteingepflasterten Gasse, die unter massiven Arkaden steil den Hügel hinan verlief (Stein liegt in der Ebene des Hochplateaus auf einem Hügel, den es mit seinen Häusern gänzlich verdeckt). Rechter Hand, hinter den Bögen der Arkaden fiel der Hand steil ab, so steil, dass man auf die Dächer der Häusern sehen konnte. Überhaupt sah man von dieser Stelle aus auf eine Art Unterstadt hinunter. Ich stützte mich auf die Balustrade, die zwischen den Bögen verlief und blickte auf ein seltsames Gebäude hinunter, auf dessen Dach als Mosaik gelb in grün ein fünfzackiger Stern ausgeführt war. In der Mitte des Daches erhob sich zudem eine kleine halbrunde Kuppel. Wahrscheinlich, sagt Wenzel, handelte es sich bei dem Gebäude um eine Synagoge, oder um eine Art Moschee. Meine Freunde drängten mich weiter und so stiegen wir die Gasse bis zum Ende hinauf weiter. Dort traten wir durch eine schwere Tür ein, die sich schwer hinter uns wieder schloss, in ein altes Haus ein. Wir wurden im Gang empfangen und dann schnell nach oben geführt. Ich verlor in dem alten, steinernen Gebäude schnell die Übersicht, wir wurden über Treppen und Treppchen kreuz und quer durch das Gebäude geführt, so dass ich mir sicher war, dass ich den Ausgang allein nicht mehr wiederfinden würde. Endlich traten wir in ein Zimmer ein, das mit verschiedenen Sofas und Tischen und Stühlen verstellt war, an den Wänden waren Büchergestelle aufgestellt. Hier wurden wir von einem Herrn empfangen, der mich ansprach, als würden wir uns schon lange kennen. Ich hatte ihn jedoch niemals zuvor gesehen. Meine Begleiter waren in der Zwischenzeit irgendwo in den angrenzenden Räumen verschwunden und ich stand an ein Nussbaumbuffet gelehnt und liess mir von dem Herrn eine Fotografie zeigen, die er selber gemacht hatte. Eigentlich handelte es sich um zwei Bilder, die er in der Mitte zusammengeschoben hatte: Auf dem einen Bild war eine Katze zu sehen, auf dem andern eine Landschaft (kurz vor dem Ausbruch eines Gewitters). Als meine Freunde wieder zurück kamen, begleitet von einer Dame, die wahrscheinlich die Herrin des Hauses war, wurde Kaffee und Tee und Gebäck serviert. Wir setzten uns auf zwei Sofas, und verschiedenen kleine Sessel, die an einem niedrigen Tisch standen. Zur Familie gehören offenbar verschiedene Töchter, die jedoch ab und zu den Raum verliessen und sich dann wieder zu uns setzten. Ich fragte mich, ob es sich stets um die selben Mädchen handelte. Nach langen Gesprächen zog dann die Gesellschaft endlich an einen grossen Tisch um, es wurde Wein ausgeschenkt und Wasser und dann weiterdiskutiert. Die Hausherren waren sehr freundliche Leute. Ich blieb, als man sich an den Tisch setzte, auf meinem niedrigen Sessel sitzen, höre den Leuten bei ihren Gesprächen zu, und glitt später vom Sessel zu Boden. Ich bin sehr glücklich, kam mir vor wie ein Kind, das am Boden spielt. Ich legte den Kopf auf die Arme und schlief ein. (Während dem Einschlafen überlegte ich mir, ob es wohl als sehr unhöflich aufgenommen werden würde, wenn ich, der Gast, mich auf den Boden legte und einschlief. Ich konnte mich aber nicht gegen die Müdigkeit wehren. Die Augen fielen mir zu.)
... Ich war Schauspieler, sagt Wenzel, und spielte in einem grossangelegten Stück mit. Das Stück spielte im Mittelalter, die Bühne zeigte einen Saal (im obersten Stockwerk eines Hauses), parallel gestellte Tische waren vollbesetzt mit zechenden Bauern, die aus Krügen Bier und Saft tranken. Wahrscheinlich wurden wir privat bewirtet, dachte ich, ein Wirtshaussaal würde doch wohl anders aussehen. Ich vermutete, dass wir in einer Probe waren und tatsächlich kam ein Mann zu mir hin (eine Art Regisseur vermutlich) und fordert mich dringend auf, die Rolle, die ich gelernt habe, auch ernsthaft zu spielen. Ich sei mir doch wohl bewusst, dass die Tochter des Hauses, die jetzt mit dem Servierbrett zwischen den Tischen umhereilte - ein hübsches Mädchen mit kurzen blonden Haaren, das schlecht in diese Zeit hineinpasste - nicht ewig auf mich warten würde. Er hoffe sehr, ich hätte meinen Text nicht vergessen. Dass ich einen Text herzusagen hatte, war mir nicht bewusst. Ich hatte keine Ahnung, wie sich die Handlung hier entwickeln sollte. Ich stand auf und wollte mich zum Ausgang wenden, da sah ich durch die Dachluken, dass das steile, mit Stroh gedeckte Dach des Nachbarhauses in Flammen stand. Ich schrie so laut ich konnte: «Feuer, Feuer!» und rannte dem Ausgang zu um Hilfe zu holen. Das Mädchen stellte sich mir mit dem Servierbrett in den Weg. Ich wollte sie zur Seite schieben. Sie ging mit zur Türe nach. Ich sage: «Ja, ja, ich weiss. Wir können später reden!» In diesem Moment fiel mir ein, dass dies meine Rolle war, mein Text. Ich hätte sie laut meiner Rolle jetzt auf später vertrösten müssen, denn ich wusste, dass sie mich liebte und ich liebte sie ja auch (was ich freilich nicht offen zugeben konnte). Ich liess sie stehen und rannte die Treppe hinunter, um möglichst schnell ins Freie hinaus zu gelangen. Im Gang, der zum Haupteingang führt stand alles unter Wasser. (Ich würde trotzdem durch diesen Gang in die Arkadengasse hinaustreten können.)

 

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Der Auftrag (120)

Als ich nach Strand fuhr, sagt Wenzel, einem ziemlich grossen Dorf in einer fernen Landesgegend, hatte ich viel Gepäck dabei. Ich bezog in einem Hotel ein Zimmer. Als ich den Auftrag erledigt hatte, packte ich wieder zusammen: zwei grosse Koffer, einen Seesack und eine Tasche. Ich verliess das Hotelzimmer nur für wenige Minuten, als ich zurückkam, war mein Gepäck weg. Die Polizei fand heraus, dass jemand durch das Fenster eingedrungen sein musste. Ich schaute in der folgenden Nacht aus dem Fenster und sah auf den Friedhof hinunter. Ich sah die weissen Kreuze schimmern. Ich hatte es verpasst, mich für die Rückreise meinen Freunden, die zur Zeit ebenfalls in dem Dorf logierten, anzuschliessen und musste jetzt also alleine mit dem Zug zurückreisen. Obwohl ich kein Gepäck mehr hatte, würde die Rückreise ziemlich mühsam werden, da war ich mir sicher. (Ich kenne dieses Dorf, die Menschen die hier wohnen. Ich kenne dieses Dorf, die Stimmung, wenn morgens vor neun Uhr die Sonne flach durch die Gassen scheint. Ich kenne dieses Dorf, ich würde mich hier, falls ich jemals hierher zöge, schnell heimisch fühlen.)

 

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Die Grossmutter (123)

Grossmutter und Grossvater müssen aus ihrem Haus ausziehen, sagt Wenzel. Die ganze Familie war dabei, als wir ihnen halfen. In den riesigen Haus sollten nur noch die Fürchelers mit ihren vielen Mädchen wohnen bleiben, und zum Rechten zu sehen (wie Grossmutter sich ausdrückte). Obwohl es ziemlich warm war (in der Nacht und am frühen Morgen war noch Schnee gefallen, aber jetzt lag nicht mehr als Matsch am Strassenrand der Strasse, die steil hinunter in die Stadt und zum Fluss führte) trug Grossvater eine wollene Zipfelmütze als er durch den Garten zur Strasse hinauf kam und in den Bus einstieg, der zur Abfahrt bereitstand. Am Nachmittag, als alle im Haus herumgerannt waren und hatten helfen wollen (vor allem die Fürcheler-Mädchen standen überall im Weg herum), hatte die Grossmutter meinem Vater, das heisst ihrem ältesten Sohn, das grosse Motorboot geschenkt, sie überreichte ihm die Papiere, die Zulassung und so fort, und meinte, er sei der einzige, der für dieses Geschenk in Frage komme. Mein Vater schenkte daraufhin das kleine Motorboot, dass er schon länger besass, spontan mir und Zoé. Wir würden es zu Hause einstellen müssen, denn wir wussten noch nicht, wo wir es stationieren würden (vielleicht würden wir es dann doch bei Rosi lassen, die weiter unten am See wohnte. Mit Rosi kamen wir zwar nicht allzu gut aus, aber immerhin hatte sie einen aus unserer Familie geheiratet). Gegen Abend fanden sich dann immer mehr Leute im Garten und im Haus ein, um zu helfen. Im Garten mussten wir aufpassen, dass niemand auf den Geleisen stand, denn die kleine Bergbahn, die vom Fluss hinauf zum Berg führte, durchquerte den Garten meiner Grosseltern. (Den See konnte man übrigens vom Haus aus nicht sehen, aber jetzt gegen Abend, als der Nebel sich verzogen hatte, selbstverständlich den Fluss.) Als dann, kurz bevor man in den Bus einsteigen musste, die Grossmutter langsam, langsam die Treppe vom Haus durch den Garten hinauf kam, und ich von der Strasse aus durch die Fenster unten die Fürcheler-Mädchen im Haus herumrennen sah, realisierte ich erst, dass Grossmutter dieses Haus, in dem sie ein Leben lang gewohnt hatte, nicht wieder sehen würde. Sie schien auf der Treppe Schritt für Schritt um Jahre zu altern. Ich half ihr in den Bus hinein, umarmte sie ein letztes mal und wusste jetzt auch dass ich sie zum letzten mal gesehen hatte. Als der Bus schon abfahren wollte merkte man, dass noch eines der Fürcheler-Mädchen, das einzige, das mitmusste (sie besuchte in einer anderen Stadt eine Höhere Schule), fehlte. Eben kam sie, ich glaube es war Katharina, die Treppe hochgerannt. Sie stellte vor mir ihren Rucksack auf die Strasse, kramte darin herum und zog schliesslich ein dunkles Brot, wahrscheinlich ihre Wegzehrung, hervor und schenkte es mir. Sie fragte, ob ich sie vergessen würde. Ich sagte nur, selbstverständlich nicht, dann sprang Katharina als letzte in den Bus. Der Bus fuhr ab und verschwand langsam in der Kurve. Alles ist so unerträglich definitiv, sagt Wenzel.

 

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Auftritt als Engel (145)

Mein Auftritt, sagt Wenzel, bereitete mir einiges Kopfzerbrechen, und kurz bevor ich hinaus auf die riesige Bühne geschickt wurde, wurde ich auch unerträglich nervös. Ich hatte keine Ahnung von der Handlung des Stückes und von meinem Part. Einzig das Lied, das ich zu singen hatte, konnte ich perfekt auswendig. Was allerdings nachher kommen sollte, davon wusste ich, mindestens in diesem Moment, nichts. Man hatte mich vorher in der Maske in einen Engel verwandelt, hatte mich wie für einen Transvestiten-Film geschminkt und aufgemacht und mir zum Schluss riesige Flügel montiert, die ich beinahe nicht zu tragen vermochte, obwohl sie mit einem ganzen System von Ledergurten um meinen Oberkörper festgezurrt waren. Wie ich damit, ums Himmels Willen, über die enge Wendeltreppe auf die Bühne hinuntersteigen sollte, war mir ein Rätsel und ich probte beim Verlassen des Raumes bereits die Körperhaltung, die mir erlaubte, ohne mit den Flügeln oben in den Tritten mich zu verheddern, die Treppe hinunter zu steigen. Zwei solche Treppen waren Bestandteil des riesigen Bühnenbildes, und alle Schauspieler mussten auf diesem Weg die Bühne betreten und verlassen. Ich zog mich nun zurück, um meinen Auftritt, das ist vor allem das Lied, das ich zu singen hatte, zu üben. Ich sang schon beim Einsingen fantastische Koloraturen, das Singen bereitete mir nicht die geringsten Schwierigkeiten, ich sang die Tonleitern hinauf und hinunter, und übte dann noch einmal mein Lied (oder eigentlich besser meine Arie). Ich war mir in diesem Augenblick bewusst, dass ich mit diesem Auftritt einen Triumph feiern, das Stück zu einem Kassenschlager machen würde. Allerdings wurde mir auch plötzlich bewusst, dass mein Stück schier unglaubliche Ähnlichkeit mit dem Hit I will always love you von Whitney Houston hatte und ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Komponist, falls das Stück denn wirklich ein Erfolg werden würde, nicht würde wegen Plagiatsverdacht angeklagt werden. Ich verliess den Raum und begab mich langsam zur Bühne. Die Bühne mit dem vorgelagerten Zuschauerraum, der mittlerweile berstend voll sein würde, lag ganz zuvorderst in einem Komplex von vielen miteinander verbundenen Gebäuden. Ich musste beinahe den ganzen Komplex durchqueren, kam durch Hallen, die stark bevölkert waren, durch Gänge, über Vorplätze und kurz vor dem Bühnenraum auch durch eine Bäderlandschaft, ein riesiges Hallenbad. Ich musste aufpassen, dass ich nicht nass wurde. Ganz vorne im Bad fand ich endlich, nachdem ich auf verschiedenen Niveaus verschiedene Schwimm- und Plantschbecken umrundet hatte, die Wendeltreppe, über die ich niederzusteigen hatte. Ich holte ein letztes Mal tief Atem und stieg dann langsam in den Bühnenraum hinunter.

 

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Mein fünfeckiges Zimmer (154)

Ich konnte, sagt Wenzel, vergangenes Wochenende auf Urlaub fahren und mietete in einem grossen Hotel ein Zimmer (da der Weg nach Hause so weit gewesen wäre, dass ich meinen Urlaub auf der Reise verbracht hätte). Das Hotel verbreitete den wunderbar morbiden Glanz längst vergangener Blüte. Ich fand ohne weiteres ein freies Einzelzimmer. Das Zimmer, mit einem fünfeckigen Grundriss, hatte selber keine Fenster, es schlossen aber auf zwei Seiten weitere Zimmer an, auf zwei weiteren Seiten Türen, auf der fünften schliesslich befand sich ein grosser Erker, durch den ein bisschen Licht einfiel. In meinem fünfeckigen Zimmer stand ein grosses Bett, dass ich sofort sah, als ich durch die Türe eintrat. Als sich meine Augen an die dämmrige Dunkelheit des Zimmers (an diesem ansonsten sonnigen Nachmittag) gewöhnt hatten, sah ich auch die übrige Einrichtung. Zu meiner Linken befand sich eine weitere Türe, die ich jedoch nicht schliessen konnte, da einer der Türflügel zu gross war und die Tür deshalb nur angelehnt werden konnte, wodurch immer ein Spalt auf den grossen dahinterliegenden Essaal offenbleiben musste. Zu meiner Rechten befand sich der erwähnte Erker, in dem mit dem Kopfende zum Fenster ein weiteres, ziemlich kleines Bett stand. Halb rechts geradeaus führte ein grosser Durchgang in eine dumpfes Nebenzimmer, in dem neben einem grossen Doppelbett auch ein weitere Tür, nebst einem Durchgang nach links, zu sehen war. Dieses verschlossene Zimmer musste hinter der Wand halb links geradeaus liegen, an der mein Bett stand. Ich glaubte an diesem Nachmittag, als ich das Zimmer bezog und mich für den Ausgang umzog noch, man hätte mir dieses Zimmer zugewiesen, weil sowieso zuviel Platz im Hause sei, zumal ich ausserhalb der Saison hier logierte, was auch mit dem Spottpreis übereinstimmte, den ich für das fünfeckige Zimmer bezahlt hatte. Ich verliess dann, umgezogen, das Zimmer, spazierte im Park, der das Hotel umgab, ass zu abend, blieb lange sitzen und las und rauchte. Als ich in mein Zimmer zurückkam, hatte ihm angrenzenden Speisesaal ein Fest gerade seinen Höhepunkt erreicht. Da ich die Türe nicht schliessen konnte, nahm ich gewissermassen als Aussenstehender teil. Ich machte Licht und sah zu meinem nicht geringen Erstaunen, dass sich im Erker ein Kind schlafen gelegt hatte. Auch im hinteren Zimmer, war jemand eingezogen. Dort hatte sich ungeniert ein Ehepaar zur Ruhe gelegt. Entweder störten sich alle drei Schlafenden nicht an der Situation, oder es war in dieser Gegend üblich, mit Fremden im gleichen Zimmer zu schlafen. Ich zog, bevor ich mich schliesslich ebenfalls entkleidete und ins Bett legte, den staubigen Vorhang zum hinteren Zimmer. Er war wesentlich zu kurz und reichte nur bis etwa anderthalb Meter über den Boden. Ich liess ihn trotzdem gezogen, legte mich nieder und schlief, trotz dem Lärm aus dem Festsaal sofort ein.

 

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Die Ruinenstadt (162)

Ich hatte, sagt Wenzel, wieder einmal ein paar Tage in meinem Elternhaus in Sturf verbracht. Auch Zoé war anwesend, ich hatte sie länger nicht gesehen. Nach ein paar Tagen musste ich allerdings eines Morgens ziemlich plötzlich mein altes Kinderzimmer räumen, da meine Eltern ein Ehepaar mit drei kleinen Kindern einquartiert hatten. Ich wusste noch nichts davon und betrat nach meiner Morgentoilette mein Zimmer. Man hatte in der Zwischenzeit das Bett bereits neu bezogen und die Gäste lagen zu fünft in meinem schmalen Bett unter meiner grossen Bettdecke. Der junge Vater hielten zwei Kleinkinder in den Armen, die Mutter trug einen Säugling auf dem Bauch. In grossem Frieden lagen sie im Bett und summten alle fünf den selben Ton, so dass in dem Zimmer ein fast unheimlich meditative Stimmung entstand. Ich verschwand, nachdem ich sie begrüsst und auch dem Säugling das Händchen gehalten hatte, schnell aus dem Zimmer. Dass mein Zimmer in dieser Art besetzt wurde, war nichts aussergewöhnliches, da in dieser Zeit, als unsere Familie noch in dem grossen Haus in Sturf lebte, oft sehr viele Verwandte zu Besucht bei uns auf dem Land weilten. Das Haus stand ganz am Rand des Dorfes, wir hatten eine bemerkenswerte Aussicht auf das Gebirgspanorama. Ausserdem stand das Haus direkt neben dem Ruinenfeld der alten Stadt, das sich über den gesamten Hügel hinunter, bis zum Zusammenfluss der Sturfer Bäche erstreckte. Das Ruinenfeld liess die ganze alte Stadt erahnen, zwei drei Strassenzüge, einen Platz, die beiden Brücken über die Bäche, die heute noch gelegentlich benutzt wurden. Wir hatten an diesem Tag beschlossen, dass ich unserem jüngsten Vetter eine Art Streich spielen sollte, um ihn damit gewissermassen in den Kreis der Familie aufzunehmen. Ich musste ihm also gleich nach dem Morgenessen die Hände fesseln und ihn so, ich führte ihn an seiner Fessel wie an einer Leine, ins Ruinenfeld hinaus und zu einem alten Gemäuer ins Gefängnis bringen. Er zog allerdings voraus und ich musste ihm immer mehr Leine geben, bis er, weit vor mir her gehend, durch die Ruinen hinunter den Bach erreicht hatte. Dort stellte er sich auf einen grossen, bröckligen Stein an der alten Brücke, die an dieser Stelle immerhin etwa fünf Meter über dem Wasser verläuft, und wackelte hin und her. Ich hatte Angst, er könnte in den Bach abstürzen und forderte ihn auf, sofort da weg zu kommen. Er kam meiner Aufforderung auch nach, suchte sich jedoch schnell eine andere gefährliche Stelle, um mich zu erschrecken. Als ich endlich bei ihm war, nahm ich ihm die Fessel ab und band sie ihm am einen Handgelenk fest, schliesslich hatte er in der Zwischenzeit wohl gemerkt, worum es bei diesem Spiel ging. Wir machten uns an den Aufstieg zurück zum Haus. Man konnte von hier aus die alte Stadt noch besser sehen, vor allem wie die Gassen früher den Berg hinauf verlaufen sein mussten. Ganz oben konnte man auch unser Haus hinter den Bäumen erkennen. Auch die zwei Gefängnisse waren jetzt sichtbar als zwei Häuser, bei denen von den Grundmauern noch höhere Ruinen stehengeblieben waren. Ich sah von hier aus zum ersten Mal, dass offenbar im oberen Gefängnis, das sich auf fast gleicher Höhe mit unserem Haus befand, ein Briefkasten, der in der Morgensonne leuchtete, montiert worden war. Bei einer anderen Ruine leicht unterhalb waren die eingestürzten Grundmauern mit Brettern wieder hochgezogen worden, man hatte Fenster eingebaut und das neue Haus überdacht. In einem der Fenster brannte Licht und, wie ich später sehen konnte, standen vor dem behelfsmässigen Eingang sogar Blumen. Waren hier etwa Menschen in die Ruinen eingezogen? Mein Vetter und ich wurden oben bereits von den andern erwartet.

 

 

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