Die Traumkarteien (1ff.) [Das Nachtbuch]: Eine Auswahl
Abteilung Eins: Traumprotokolle 1986-1995 (1ff.)
von Franz Wenzel

 

 

 

Die Stadt als Museum der Welt (17)

An diesem kühlen, frühen Morgen, sagt Wenzel, suchte ich mir den steilen Weg vom Flussufer zwischen den Ruinen hinauf zur Altstadt. Zwischen den Ruinen wuchsen überall herrliche bunte Blumen. Lange verweilte ich zwischen den Mauern einer Kapelle und schaute durch den ehemaligen Chor hinunter auf den Fluss. Als die Sonne gerade aufging, erreichte ich die Oberstadt. Zwischen riesigen alten Palästen verliefen gepflästerte Wege den Hügel weiter hinauf und hinunter in Richtung der zahlreichen Stadttore. Nirgends waren hier bewohnte Häuser oder Geschäfte zu finden. Die ganze Stadt schien verlassen zu sein und langsam zu zerfallen. In den Strassen war es so schattig, dass es beinahe dunkel war. Endlich fand ich eine angelehnte Tür zu einem der Paläste, stiess sie ohne Umstände auf und trat ein. Ich befand mich in einem langen Innenhof, der breitseits, wie ich ihn betreten hatte, geteilt war. In den zwei Innenhöfen, die so entstanden, verliefen auf der Höhe von vier Stockwerken Galerien. Abgeschlossene Räume schien es in diesem Haus nicht zu geben. Alle Galerien blickten auf die Innenhöfe herunter, ihre Fenster unverschlossen auf die umliegenden Gassen. Über den Innenhöfen war das Dach geöffnet, so dass Morgenlicht in den Palast fiel. Ich fand schnell eine Treppe und stieg in die höheren Geschosse hinauf. In den Gängen standen auf zahllosen Stelen verteilt Globen aus Stein, zum Teil mit eingemeisselten Ländernamen, und Kugeln aus Holz. Die mit reichen Schnitzereien verziert waren. Plötzlich gewahrte ich unter mir im Hof Leute, die in die Galerie hinaufzuschauen schienen. Wahrscheinlich hatten sie mich gesehen, denn schon hörte ich Schritte auf der Treppe. Ich stieg schnell höher hinauf, vorbei an weiteren Ausstellungsgegenständen, weiteren Modellen zur Erdkunde, an grossen, auf dem Boden stehenden Tafeln auf denen eingeritzte Zeichen komplizierte Konstellationen bildeten. Die Schritte der Verfolger kamen über die Stockwerke näher und hallten bedrohlich im Hof. Ich musste schnell einem Weg zur Flucht finden um zu fliehen. Im hinteren Hof endete die Galerie in einer Sackgasse. Ein schmaler Steg, eher für eine Katze als für einen Menschen, führte diagonal über die Rückwand des Gebäudes steil in den Innenhof hinab. Langsam und vorsichtig stieg ich auf die wacklige Konstruktion und kam so Schritt für Schritt dem Boden näher, indem ich mich immer mit beiden Händen an den groben Steinen zu meiner Linken festzuhalten versuchte. Der Steg schwankte bedrohlich. Aus vielleicht einem Meter sprang ich schliesslich ab und verliess das Gebäude eilends, die Stimmen hinter mir lassend.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Der Leichenzug (18)

Auf einer jener geduckten Steinbrücken, die einen wasserarmen, breiten Fluss überspannen, stand ich neben einem Brückenwagen, der von vier bäurischen Pferden gezogen wurde, sagt Wenzel. Der Wagen hatte eben neben mir angehalten und mich in eine unangenehme Stellung zwischen seinen Rädern und der Balustrade zum Fluss hinunter gebracht. Über mir auf der Balustrade standen grosse, in Stein gehauene Figuren, die meisten mit grossen Flügeln und kantigen, scharfen Gesichtern. Die Figuren neigten sich alle leicht vor, so dass die harten Gesichter auf den Reisenden, der die Brücke überqueren musste, steinern und kalt heruntersahen. So wie ich stand, konnte ich leicht über den Brückenwagen sehen. Auf der Ladefläche standen hintereinander zwei grob gezimmerte offene Särge. Im vorderen lag auf dem Rücken ein sauber gekleideter Toter mit sorgfältig eingebundenem Gesicht und einem Hut. Ich wusste, warum sein Gesicht eingebunden worden war; er hatte sein Gesicht bei einem Sprengunfall verloren. Im hinteren Sarg lag auf der Seite ein Mann mit groben Tuchhosen und einem schmutzigen Unterhemd, er war barfuss. Er hatte den Kopf in der Art eines Schläfers auf den Oberarm gelegt und verdeckte mit dem Unterarm die Augen. In der Tat atmete er sehr ruhig und gleichmässig, schien also tatsächlich zu schlafen. Je länger der Wagen stand, desto ungeduldiger wurde das Volk auf der Brücke: Die einfachen, schwarzgekleideten Angehörigen des Toten und die zahllosen Mitläufer, die die ganze Brücke bunt belebten.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Steinwegs Haus (19)

Auf dem Nachhauseweg wurde ich, sagt Wenzel, von einem Unbekannten angesprochen und beauftragt, einen Brief, den der Unbekannte mir sofort und ohne Umstände aushändigte, an einen gewissen Steinweg zu überbringen, was ich, trotz der ungewohnt späten Stunde, es war lange nach Mitternacht, sofort zusagte. Den Weg den Hügel hinauf als Nachtspaziergang nehmend, machte ich mich sofort auf, den Auftrag auszuführen und die Verantwortung auf diese Weise so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Der Weg war steil und ich kam schnell ins Keuchen, blieb deshalb oft stehen und schaute mich um. Bald hatte ich die letzten, dunklen Häuser hinter mir gelassen und sah nun bereits das Haus auf dem Hügel vor mir, das sich dunkel gegen den Nachthimmel abhob. Schliesslich verliess ich den grob gekiesten Privatweg und folgte dem ausgetretenen Wiesenpfad zum Haus hinüber. Am Zaun blieb ich stehen und bemerkte hier zum ersten mal die seltsame Unregelmässigkeit in der Art, wie die Fenster über die ganze Fassade von Steinwegs Haus verteilt waren. Einige glichen dabei den hohen Fenstern französischer Landhäuser, andere waren klein und schmal, oder sogar vergittert, ganz oben gab es zwei Kirchenfenster. Ich fand im Zaun kein Garagentor und musste ihn, nachdem ich das Haus einmal umrundet hatte, überklettern, was nicht allzu schwierig war, da er nur etwa hüfthoch war. Durch die Haustüre betrat ich den Vorraum und suchte Steinwegs Briefkasten. Die Briefkästen waren jedoch sämtliche unbeschriftet. In der Hoffnung eine beschriftete Klingel zu finden, wollte ich ins Treppenhaus treten, fand jedoch den Durchgang nicht, der, wie sich gleich herausstellte, in einem etwa einen halben Meter hohen Durchschlupf bestand, durch den ich nun kriechend ins Treppenhaus gelangte. Als ich mich aufrichtete sah ich, dass das Treppenhaus aus einem Schacht bestand, der vielleicht acht Meter im Geviert mass, und bis unters Dach reichte. Auf allen möglichen Höhen waren die unterschiedlichsten Türen angebracht, zu denen Treppen, Rampen, Stangen oder leichte Aufzüge hinaufführten. Alle diese Türen nach Namensschildern abzusuchen schien mir unmöglich und so stieg ich rechters auf einer steilen Treppe direkt zum Estrich hinauf. Hier blieb ich stehen, schaute in den Schacht hinunter und überdachte meine Lage: Es schien mir ganz unmöglich, den Brief noch in dieser Nacht zu übergeben, es sei denn, ich hätte das ganze Haus aufwecken wollen. So stieg ich wieder hinunter, kroch in den Vorraum hinaus, trat in den Garten, zog die Haustüre hinter mir zu und überkletterte den Zaun. Hier, vor dem Haus, traf ich den spät heimkehrenden Steinweg.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Die Flucht (22)

Ich sass schon beinahe den ganzen Nachmittag hier unten und las. Sie durften mich nicht finden, sagt Wenzel. Die Beleuchtung war dumpf, nur vorne auf der schmalen Bühne schnitten ein paar Spots scharfe Lichtkreise in die Dämmerung. Chantal hatte mich eingelassen und hier heruntergebracht. Ich war noch völlig in meine Lektüre vertieft, als sich das Lokal plötzlich, innerhalb weniger Minuten, füllte: Die Männer standen zwischen den Tischen, die Sitzplätze waren längst vergeben. Die Musik begann zaghaft, dann brachte eine üppige Stripteasetänzerin die Männer zum Flüstern. Chantal zog mich plötzlich am Arm nach hinten, ich verstand nicht was sie sagte und folgte ihr. Im Lift standen wir Körper an Körper dicht beisammen, sie schob mich aus der Kabine hinaus, zeigte mit dem nackten Arm in welche Richtung ich gehen müsse. Ich verstand sie jetzt: «Schnell, geh jetzt!» Der Lift verschwand hinter dem hellen Fenster. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich oben trockenes Sonnenlicht zwischen den Brettern der Decke und bald war mir klar, dass ich mich in einem riesigen Dachstock befand, in dem Lattengitterwände Gänge und Abteile abtrennten. Ich ging so schnell wie möglich in die angezeigte Richtung, verfehlte oft den Hauptgang und stiess gegen die Abschrankungen, musste zurückgehen und dann weiter, bis ich endlich an ein grosses Holztor kam. Über dem Tor auf einem Balken fand ich den Schlüssel, öffnete das Tor, schloss es hinter mir wieder und warf den Schlüssel auf den Weg. Ich stand jetzt draussen, vor diesem riesigen Bauernhof, vor mir stieg der Hügel hinauf bis in den Himmel. Er nahm mir die Sicht nach allen Seiten, so nahe stand das Haus hier am Steilhang. Ich begann schnell den Hügel hinaufzuklettern. Er schien aus sehr lockerem Erdreich zu bestehen und machte mir das Vorwärtskommen ziemlich schwer, ich rutschte immer wieder zurück und konnte mich nirgends festhalten. Unterwegs verlor ich mein Buch und musste schon nach kurzer Zeit die Schuhe und die Socken ausziehen. Als ich endlich oben ankam, hatte ich schmutzige Füsse und Hände und ziemlich schmutzige Kleider. Ich lag oben auf der Hügelkuppe und schaute auf der andern Seite hinunter: Ich blickte geradewegs in eine flache Talsenke hinunter, hinter der ein noch höherer Hügel anstieg. In der Senke unten sah ich drei Frauen, grobe bäurische Wesen in dreckigen Röcken und eine Handvoll lauter dreckiger Kerle, barfuss wie ich, an der Arbeit. Von Hand trugen sie Erde vom grösseren Hügel zum kleineren, auf dem ich lag und auf sie hinunterschaute, und eilten so immer hin und her. Als sie stolpernd und fallend, die Hände voller Erdreich, ein weiteres mal auf mich zukamen, entdeckten sie mich. Ich stand auf und wollte ihnen entgegengehen, doch ich stolperte und fiel hin, als ich die Augen öffnete, sah ich gleichzeitig zwei Dinge: Vor meinen Augen lag eine kleine nackte rosa Puppe und die dreckigen Menschen kamen tobend auf mich zu gelaufen. Ich stand schnell wieder auf und hielt ihnen die kleine schmutzige Puppe entgegen. Sie blieben stehen und stutzten; die Frauen begannen aufgeregt zu flüstern und begannen dann zu lachen und plötzlich lachten auch die Männer lauthals los. Sie hakten mich unter und wir gingen zusammen zur Arbeit zurück. Ohne Erklärungen und Einweisungen begann ich ihnen zu helfen: Die erde vom grossen Hügel zum kleinen Hügel hinüberzutragen. Sieben Jahre sind wir jetzt an der Arbeit und sieben Jahre muss ich ihnen noch helfen.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Das letzte Zimmer (24)

Ich trat durch die Verbindungstür ins letzte der Zimmer. Hatte man tatsächlich vergessen, es beim Umzug auszuräumen? In der Mitte des Raumes, sagt Wenzel, lag auf Holzböcken eine grosse Tischplatte, darauf lagen ungeordnet Blätter, die meisten mit Skizzen und Notizen bedeckt. Es sah aus, wie wenn jemand hier eben seine Arbeit verlassen hätte. Ich fand, als ich in den Blöcken und Büchern und den losen Papieren blätterte, Skizzen mit Farbmustern, Kompositionsstudien. Ich setzte mich auf den Hocker: Die Skizzen interessierten mich. Ich begann in den Notizbüchern zu blättern. In den schier unleserlichen Notizen fand ich Ideen, die aus meinen eigenen Zetteln abgeschrieben schienen. Ich war erstaunt, dass man das alles beim Umzug vergessen hatte. Ich legte die Bücher auf den Tisch zurück und sah mich um. In einer Zimmerecke war ein Wandschrank eingebaut. Ich drehte den Schlüssel. Als ich die Türe öffnen wollte, hörte ich das Geräusch und sprang zurück: Aus dem Kasten fielen Tausende von Baumnüssen heraus und rollten über den Fussboden. Ich stand reglos inmitten der Nüsse. Die Nüsse schaukelten ungleichgewichtig hin und her, machten immer kleineren Lärm und endlich war es wieder still. Die zweite Kastentüre liess ich zu, schob mit den Füssen die Nüsse auseinander, pflügte die Zimmertüre auf und trat in den Gang, ins Treppenhaus hinaus, drehte den Schlüssel der Wohnungstüre im Schloss und ging.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Winterreise (25.1)

Das unterste Stockwerk stand knöcheltief unter Wasser. Als ich aus dem grossen Tor trat, sah ich, sagt Wenzel, dass das Meer weiss und weit und blendend zugefroren war, sah die schwachen Wellen, die unter dem Eis hervor über den Quai spülten. Ich ging langsam wieder ins Haus zurück, an ein Überqueren des Quais zum Land hinüber war nicht zu denken. Klirrendes Morgenwinterlicht erfüllte das Haus. Im ganzen Haus standen die Fenster offen. Im ersten Zimmer, Nummer Zwei, stand ein zerschlafenes Bett, durcheinandergeworfene Decken und Leintücher, schlafwarme Luft strömte aus der Tür in die Kälte. Ich zog die Tür zu. Im zweiten Zimmer, am Ende des Ganges, die weisse Tür mit der schwarzen Vier, stand der schwere Holztisch, die Kerzenleuchter, Talglichttropfen noch vom letzten Abend und auch hier ein offenes Fenster: Ein wehender, dünner Vorhang bauschte sich und liess die kalten Sonnenstrahlen, die von flach über dem Meer kamen, unruhig auf der Wand flackern. Ich wollte eben die angelehnte Türe ins mittlere Zimmer (ohne Nummer) aufstossen, da wurde die Türe mir entgegen aufgedrückt: Ich hatte den Raum dahinter nie gesehen, erinnerte mich aber an die Türe, die wie die Wand tapeziert war und deshalb, wenn sie geschlossen blieb, fast unsichtbar war. Im Raum waren Gestelle, Holzregale bis unter die Decke angebracht. Eine Frau kam mir entgegen, ein Mann legte mir eine Hand auf die Schulter (er musste hinter mir gestanden haben). Die Regale waren voll mit tiefgefrorenen Babys in engen, babyblauen, gestrickten und mit Eiszotteln besetzten Schlafsäcken. Die Frau schloss die Türe. Der Mann nahm mich beiseite: Ein derart ruhiges, selbstsicheres Geständnis hatte ich nicht erwartet. Ich war nicht einmal entsetzt (stellte ich mit Erstaunen fest): Die Babys waren zum Verzehr dort gelagert, als Wintervorrat.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Der Köhler (44.2)

Das zweite Haus erreichten wir über den Hügelkamm und hinunter durch den Wald. Auf einem leicht abfallenden Plateau, das eigens gerodet schien, stand das Haus. Es war einstöckig, sagt Wenzel, schien jedoch eine ziemlich grosse, wenn auch verwinkelte, Grundfläche zu haben. Auf zwei Seiten schloss eine grosse Terrasse, die von einem Holzgeländer umgeben war, an das Haus an. Auf der Terrasse lagen Baumstämme, dünnere Äste waren gegen das Geländer gelehnt, Wurzelstöcke lagen ausserhalb. Bauer und ich blieben stehen und schauten uns das Haus von weitem an. Ich entdeckte zwischen den liegenden Stämmen einen Mann, der kleinere Holzstücke in eine Schubkarre einlud. Wir beobachteten, wie der Mann die Ladung hinter das Haus führte und gleich darauf wieder nach vorne kam. Bauer und ich traten näher. Erst jetzt sahen wir, dass hinter dem Haus ein grosses Feuer schwelte, dessen Rauch vom Wind zu Boden gedrückt und vom Nebel beinahe unsichtbar gemacht wurde. Der Mann türmte über dem Feuer seine Holzstücke auf, ohne mich und Bauer zu sehen. Als Bauer ihn ansprach (ihn gegen den Wind anrief), zuckte der Mann zusammen und wandte uns sein stoppliges, wettergegerbtes, altes Gesicht zu und als er schliesslich, die Lippen kaum bewegend, zu mir und Bauer sprach, verstanden wir kein Wort. Der Mann nahm seine Arbeit wieder auf. Wir wandten uns zum Gehen.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Godoni & Manzoni: Detektei (62)

Die Herren Godoni und Manzoni waren mit der Suche nach den verschwundenen Frauen beauftragt; die beiden Frauen waren beide nach Einbruch der Dunkelheit plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Was ich jedoch weiss, sagt Wenzel, ist, dass die beiden später mit dem kaputten Fahrstuhl, von dessen Gittertor sie zuerst das Schild Ausser Betrieb und dann die Ketten entfernt hatten, zum Friedhof hinaufgefahren sind, um das Grab ihrer gemeinsamen Freundin und Schwester noch einmal zu besuchen. Wobei für die eine die Motivation für den Besuch wohl die lautere Schwesterliebe gewesen war, für die andere aber eine immer noch nicht überwundene Verletzung seitens der Toten. Diese hatte ihr zu Lebzeiten stets und konsequent verwehrt ihr Rüsselchen sehen zu dürfen. Ich erinnere mich genau, wie die jetzt Tote sie entsetzt angeblickt hatte, als sie sich im Auto zu ihr nach vorne gebeugt hatte, um sie zu fragen, ob sie jetzt endlich ihr Rüsselchen sehen dürfe. (Dabei hatte sie auf mich, der ich neben ihr auf dem Rücksitz sass, nicht geachtet.) Der Wagen übrigens, sagt Wenzel, wurde jetzt, Monate später, unten am Hochhaus verlassen gefunden. Auf dem Friedhof, beim Familiengrab, das von einem immensen schneeweissen Grabstein mit arabischen Aufschriften dominiert war, die Kerze war über Nacht heruntergebrannt, logisch, war nichts verdächtiges gefunden worden. Godoni und Manzoni waren eben deshalb mit der Suche nach den beiden verschwundenen Frauen beauftragt worden. Was sie jedoch im Einkaufszentrum zu tun hatten, sagt Wenzel, wo der eine sich den natürlichen Trieb sofort und auf der stelle zu pissen verklemmte, weil er die Stellung halten musste, wie er selber sagte, während der andere eben diesem Trieb nachzugeben die Toiletten aufgesucht hatte, weiss ich nicht.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Jagdgemälde im Frühjahr (69)

Nebellicht und fahler Sonnenschein, sagt Wenzel, plätscherndes Wasser durchs offene Fenster, auf der Wand die Tapisserie einer Jagdszene in einem frühlingshaft durchscheinenden Wald: Eine schöne Jägerin, ein junger Gemsbock, ein kräftiges Pferd, ein starker Jäger, alte bäume: Lebenskraft, im Frühling erwacht: Zartgrünes Laub, rauschend im lauen Wind, ein hell plätscherndes Bächlein, das silberhelle Gezwitscher der Vögel, ich erinnerte mich genau an das Bild, an das Gewebe. Im vordersten Zimmer schlief Steinweg in einem grossen, staubigen Zimmer in einem alten, hohen, grossen Bett, das auf einem kleinen Podest stand, das Bett verhängt von leichten Tüllschleiern, die sich bauschten; Brokatvorhänge hingen zurückgezogen vor den offenen Fenstern, die Türen im ganzen Haus waren stets offen. Ich selber schlief ein Stockwerk höher, in einem kleineren Zimmer, das jedoch eine Flügeltür auf einen kleinen Balkon hinaus hatte, von wo man direkt über die Wiese hinunter zum See sah. Im Haus war immer Frühling, stets war ein feiner Luftzug zu spüren. Ich weckte Steinweg immer selber, sagt Wenzel. Ich selbst aber wurde von einer unauffälligen Bediensteten geweckt, die nur die Türe leise öffnete und mir einen guten Morgen wünschte. Davon wurde ich sofort wach. Von Steinwegs Zimmer ging durch einen Vorraum ins dritte Zimmer eine Tür durch. Im Vorraum befanden sich Gestelle mit Pinseln, Farben, Papieren, Leinwänden, Schachteln, Kisten. Im hinteren, eigentlich helleren Zimmer war das ziemlich dunkle Atelier (dabei hätte man nur die Vorhänge aufzuziehen brauchen). Es standen dort Leinwände und allerlei Kram herum. Von der Decke herunter sank der Nebel.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Ein Gartenfest (und eine Prophezeiung) (80.3)

Irgendwie kam in unserem neuen Garten ein ganzes Gartenfest zusammen, bis ich wieder zuhause war. Den Wegen entlang, schön nebeneinander, am kleinen Abhang unterhalb des Zaunes, auf dem Rasen und an der steilen Böschung sassen Jugendliche zusammen, alle jünger als ich, und tranken und rauchten. Auf dem Rasen standen auch einige Personen und bewegten sich zu einer Musik die nicht zu hören war. Unter anderem sah ich im Garten auch Leute, die ich in den letzten Tagen vor allem durch Uwe kennengelernt hatte. Ich setzte mich an die Böschung an den Weg gegenüber Uwe, der mit einem Freund dort sass. Einer von Uwes Freunden kam auf mich zu, wie jedesmal wenn er mich sah, beugte er sich zu mir herunter und klopfte mir auf die Schulter [...]. Das Treiben dauerte lange in die Nacht hinein, ich fand es eigentlich sehr langweilig, bedauerte dann aber nicht, sitzengeblieben zu sein. Lange nach Mitternacht tauchte er wieder hinter meinem Rücken auf, er warf mir ein Tuch über die Augen, sprang aufgeregt hin und her, sprach mit schrecklich krächzender Stimme einige unverständliche Sätze und rief schliesslich: «Ich habe es dir gesagt, du kannst alles zurückhaben, (wenn du dich erinnerst): deine Putzfrau, deinen Doppelgänger und deinen Keith.»

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Die Wolkensteiner Wohngemeinschaft (89)

In einer Kleinstadt westlich von Zett, hatte ich, sagt Wenzel, vor wenigen Tagen eine neue Wohnung im Hinterbau eines Einkaufszentrums bezogen. Draussen am Haus hing ein grosses Schild, welches das Gebäude als die Wolkensteiner Wohngemeinschaft kenntlich machte. In meine neue Wohnung gelangte man während der Öffnungszeiten entweder direkt durch die Vorhalle der Supermärkte und Geschäftsboutiquen über ein Treppenhaus, oder, während das Zentrum geschlossen war über eine Treppe im Hinterhaus selbst, die ziemlich unübersichtlich angelegt worden war. Durch dieses hintere Treppenhaus war meine Wohnung wirklich kaum zu finden, wenn man sich nicht auskannte. In diesen ersten Tagen passierte es mir ab und zu, dass ich mich nach dem Weg erkundigen musste, denn die Treppe teilte sich in jedem Stockwerk wieder und wieder, und ausserdem waren ein Teil der Türen und Durchgänge, bedingt durch den Zusammenbau des alten Hinterhauses mit dem neuen Zentrum, so schmal geworden, dass sie für mich nicht passierbar waren und ich Umwege in Kauf nehmen musste. Durch das Zentrum selbst wäre der Weg an und für sich einfacher gewesen, wenn man nicht, um eine unterirdische Ladenpassage mit Tageslicht zu versorgen, einen Teil des Bodens herausgebrochen hätte, was nun den direkten Weg verunmöglichte, wenn man keine Kletterei in Kauf nehmen wollte, was allerdings grundsätzlich möglich gewesen wäre, denn man hatte an den Wänden in die Ladenpassage hinunter Leitern (wie in einem Schwimmbassin) angebracht. Meine neue Wohnung war, wenn man alle Hindernisse überwunden hatte, durch eine enges, dunkles Treppenhaus erreichbar. Man betrat durch eine Glastür einen kleinen Vorraum, von welchem zwei weitere Türen abgingen, die eine in die Wohnung des Nachbarn (ein Mann in meinem Alter, den ich mit dem Staubsauger in der Hand kennenlernte), die andere in einen kurzen Gang, von wo eine Türe in meine Küche führte, eine andere ins Wohnzimmer. Um in die Räume zu gelangen, mussten mehr oder weniger Treppenstufen überwunden werden, so dass die Wohnung schlussendlich mehrgeschossig war. Die Küche war mit einem langen Tisch mit vielen Stühlen, einem sicher fünf Meter langen, doppelseitig benutzbaren Bibliotheksgestell (das ich aber ins Wohnzimmer hinüberzunehmen gedachte), einem rundum zugänglichen Gasherd und den üblichen Küchenschränken und Ablageflächen eingerichtet. Ausserdem befand sich in der Küche ein kleines Pult, gerade richtig, um darauf die Haushaltsbücher zu führen. Dann gab es zwei kleine Balkone, die nach verschiedenen Seiten hinausgingen. Das Wohnzimmer war wirklich riesengroß und vor allem im hinteren Teil mindestens zwei Stockwerke hoch. Im vorderen Teil ging eine ganze Fensterreihe auf das Dach des Einkaufszentrums hinaus, der hintere Teil war über der Höhe des nächsten Stockwerks mit einem Glasdach gedeckt, welches viel Licht einliess. Die Fenster des oberen Stockwerks (die im übrigen hässliche Vorhänge hatten) führten direkt in mein Wohnzimmer. Der Boden war unter dem Glasdach etwa einen halben Meter erhöht und in der Mitte durch ein paar Treppenstufen erreichbar. Der Grundriss des Raumes war, obschon unregelmässig, wahrscheinlich etwa achteckig und im ganzen von dieser Bühne und den Oberlichtern bestimmt. Im Gegensatz zu der Küche stand er ganz leer, als ich einzog und das Parkett glänzte in dem vielen Licht.

 

[Seitenanfang]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

 

 

Eine Reise mit Steinweg (92)

Hinten, sagt Wenzel, auf der Ladefläche des Wagens, führten wir in grossen Töpfen Eis mit uns, Kisten mit Salatköpfen und in Blechbüchsen Kleingeld. Wir hielten meist auf grossen Parkplätzen, schauten uns die Land- und Strassenkarten an, und planten den nächsten Teil der Reise. Wir fuhren durch Dörfer, an vielen Feldern vorbei, auch und über Höhenzüge, von wo wir in die Felder hinuntersehen konnten, auf denen gearbeitet wurde. Wir sahen oft den Arbeiterinnen auf den Feldern zu, indem wir auf unserem Wagen sassen. Die Mädchen arbeiteten alle in weiten einteiligen, einfach geschnittenen Röcken, die sie unten zusammenrafften und mit einer Hand zusammenhielten, wenn sie zwischen den langen Pflanzreihen hin- und hersprangen. Wir blieben am liebsten sitzen, bis am abend am Rand des Feldes einer, meistens ein junger Bursche, auftauchte und Feierabend schrie, oder in ein Horn stiess. Dann liefen alle Mädchen über die Abhänge zusammen und wanderten durch die Felder und über die Feldwege den Dörfern zu nach Hause. Wir hatte die strenge Theorie, die auf unseren ausgiebigen Beobachtungen beruhte, dass neunundneunzig Prozent der arbeitenden Mädchen hübsch waren. Steinweg pflegte zu sagen, dass er das eine Mädchen unter den jeweils hundert andern, das nicht hübsch sei, noch nie gesehen habe. Ja, ja, der Sommer!

 

 

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel: Die Traumkarteien (1ff.): Eine Auswahl]

[zurück zur Übersicht: Franz Wenzel (1960-1999)]

 

 

 

 

[zurück zum wortwerk]    Copyright 2000 bei wortwerk