journal_03.07.2001

 

 

VORWORT. bei all der nichtsnutzigen theoretisiererei ist in den letzten tagen ganz vergessen gegangen: der geregelte ALLTAKT im quartier, das stadtleben (und seine tücken), das zusammenbeben auf engstem raum, die freuden und leiden des fremden in der fremden stadt: «are you a stranger here?» - «everybody is a stranger here, man.» on parle anglais à paris (gegend beaubourg).
ja - so etwa. das wichtigste zur erarbeitung der GROSSSTADT ist die genauste und naturgemäss lückenlosteste beobachtung der näheren nachbarschaft. ganz einfach. kommen wir also direktestens zur:
DAILY SOAP. TEIL 1. «dass du mir nach einer gestrichenen woche zum ersten mal infos über deine NACHBARN durchgibst freut mich. sie werden umso fundierter sein. deshalb nehme ich auch an, dass deine beobachtungen schon mehrfach erfolgt sind.» als monsieur brètsch solches vor vielen tagen schrieb, wurde der missstand offenbar: ich hatte die nachbarn vernachlässigt. wenn ich allerings gewusst hätte, wohin die intensivierung meiner observierungen führen würde, hätte ich vielleicht von meinen damals gefassten plänen abgelassen (siehe unten). eine entwicklung der dinge in 10 berichten , verschiedene einwendungen inkl. (auszüge):
>>> BERICHT 1. «und die PERINNE PANDORE von gegenüber [...] werd ich mit dauerbeobachtungsstatus belegen. glaube nur leider langsam, die ist seit dem wochenende nicht wieder zurückgekehrt. grad wie die schöne CHARLOTTE. ihre wäsche hängt sogar seit letzten freitag. ich seh es doch. [...] oder die STUDENTIN: sie hängt auch schon die zweite ladung raus: ist voll organisiert. höschen und kleinzeug zuunterst, t-shirtz und hemdchen oben. dann fenster offenlassen, dass es auch ein bisschen durchzieht: der tumbler der studenten. ich machs genauso.»
>>> BERICHT 2. «ich hab versucht heute morgen, nach einem kurzen schläfchen soffort die nachtbarbeobachtung wieder zu intensivieren. hab bis nach 6 uhr [früh] das appartement gegenüber ausgespäht und lag dann ab 7 uhr 30 wieder in meinem versteck. ich bin aufs gerüst rauf und habe in bauchlage zwischen den brettern rausgekuckt. nur scheint mir jetzt - erste zwischenbilanz - das studentenleben keinesfalls 'eines der interessantesten' zu sein. ich meine: wenn diese DAME, von der ich gestern die wäsche beschrieben hatte, in dieser zeitspanne nur die wäsche wieder reinholt. ist doch ein bisschen mager, um den weiteren beobachtungszustand aufrecht zu erhalten, n'est-ce pas?»
>>> EINWENDNUNG 1. «ich danke dir für die informationen über deine nachbarn. und nachbarinnen. dass sich das studentenleben aus vielerlei gründen nicht rentiert liegt auf der hand. ich kann das aus eigener erfahrung sagen. erstens ists langweilig. zweitens fehlt es dauernd am stutz. kunststück, ist deine nachbarin ein unlohnendes BEOBACHTUNGSOPFER. eine rockbewegung in vier tagen. na sowas. wenn sie doch eine hausfrau wäre. die haben deutlich mehr wäschebewegungen zu verzeichnen. und du weisst ja: wäscheaufhängen gehört zu den erotischsten beobachtungsbewegungen von gelangweilten junggesellen. vor allem im sommer. wenn die blüschen neckisch über die bauchpartie hochrutschen und den nabel aller näbel preisgeben.»
>>> BERICHT 3. «also habe ich das objekt gewechselt. der örgelchenmann wird der nächste sein. ich kenne erst seine frisur - TOTALRASTA - und eine rückansicht seiner zweidrittelsperson. stand hinter einem sofa [...] und kuckte ins zimmer (was er wohl für grandiose füsse hat, die er verstecken muss). weites tshirt, unterhose: marke badeklamotten. mehr weiss ich noch nicht. wos jetzt aber brisant wird: er wohnt mit der wäscherin in der gleichen wg. muss mal schauen, was da noch drinliegt. ich werd in jedem fall mal versuchen ihn mit meiner jackie-mittoo-cd ans fenster zu locken. allerdings ist es seit gestern merklich kühler geworden, bei ihm also alle fenster zu.»
>>> EINWENDNUNG 2. «sag dem rastamann, dass eine andere zeit angebrochen ist. sagt ihm: bird lebt.»
>>> BERICHT 4. «nun denn, was mir am herzen liegt, ist das folgende: gegenüber - diesmal im sechsten stock - feiern die heute schon die zweite wochenparty ab. die sitzen immer so dekoratief rum und reden so laut, dass mans hier mühelos hören könnte, wenn ich das radio ausschalten würde. mach ich aber nicht, bin ja nicht indiskret. die hausherrin geht immer bisschen hin und her. vielleicht schenkt sie die gläser voll oder so. sie ist heute erst um vier uhr nachmittags aufgestanden: kam gleich ans fenster, mir einen gruss zurufen. von so einem gruss kann man längere zeit leben, das sag ich dir. [...] ab und zu noch ein glas wasser. mehr nicht. die herren lachen ein bisschen aufdringlich. sonst verläuftz ruhig. halt: jetzt hat sie sich grad ins fenster gesetzt und gerufen: «non - pas de problème!» so richtig ein bisschen genervt. vielleicht wirtz ja noch ein problem.»
>>> BERICHT 5. «in der studentenwg ist heute ein neues gesicht ans fenster getreten: vielleicht der dritte im trois-pièces? werd ihn im auge behalten. dem rastaman habe ich die sache mit bird sagen wollen: er hört nicht hin. ist das der sinn? was soll ich erreichen?»
>>> BERICHT 6. «ausserdem hab ich eine richtige französische familie geaussichtet. die haben diese pastellenen spannteppiche und diese stühlchen mit den dünnen beinchen. und diese langen weisslichen vorhänge. und die dame des hauses trägt so ein blüschen, armfrei. dann gibtz kinder: die auf dem bett, das gleich am fenster steht, rumturnen. böse, böse kinder ... aber ... kriegen durchaus ab und zu eins hinter die ohren ...»
>>> EINWENDNUNG 3. «ist gut, dass es die richtige französische familie noch gibt. ganz gut. mit den pastelltapis auf dem stubenboden. und der verwegenen hausfrau. wie lange die tapis noch pastell bleiben, wenn die kinder so blöd rumturnen, sei dahingestellt. dass es sie hingegen noch gibt ist alleine schon beruhigend genug. die familie. man froit sich über solcherlei fänomene. »
>>> BERICHT 7. «mann o mann: tritt eben ESTELLE ans fenster. la déesse du matin. kämmt sich im fenster die haare. aus welchem märchen die wohl stammt? sie kennt mich schon: schliesst schnell wieder das fenster [...]»
>>> BERICHT 8. «estelle liegt am fenster und macht liegestütze. aussi pas mal. et surtout: très jolie too. (mann: diese nase, wenn sie sich ins profil wendet ...) ihr freund gut sichbar auf dem sofa: flätzt sich und lebt von meinem reichtum [eine andere diskussion]. schweinehund. bin ich jetzt ein aushälter?»
>>> BERICHT 9. «die stundenten haben wahrscheinlich das journal gelesen. jetzt sind die läden alle zu. oder sie pennen noch oder sind aus protest verreist. wer weiss. die schöne ESTELLE ist heute auch vor mir aufgestanden. nix haare kämmern, nix liegestütze. nur die nachtbarn hier - fünfte etage links - sind wieder zurück und haben gestern in einer wahren meisterübung ihre unterhosen und sonstigen unterkleider reingefischt, weil der pater und ich auf dem balkon standen und laut rumkuckten. die waren wahrscheinlich splitterfaserbeknackt in der wohnung, hatten mal schnell alles gewaschen und brauchten jetzt was zum anziehen. [...] wir habens genossen: und gingen selbstverständlich nicht von unseren logenplätzen weg. kuckten auch schön unauffällig. etwa so unauffällig wahrscheinlich, dass die zwei ab heute auf unbestimmte zeit verreist sein werden oder grad definitief ausziehen.»
>>> BERICHT 10. «wie es kommen musste: die nachbarschaft fühlt sich - noch intensiver, seit wir, der herr win und ich, zu zweit auf dem balkon stehen - geradezu belagert (die prinzessin hält sich schön im hintergund). gegenüber werden koffer gepackt. in den unteren stockwerken sind bereitz alle läden zu. im dachgeschoss - bei ESTELLE zum beispiel - werden die vorhänge - nicht einmal mehr zum haarekämmen - geöffnet. langsam verfinstert sich das haus. abendz - vermuten wir - sitzen die bewohner im dunkeln. bald werden alle weggefahren sein. exodus in den nummern 95 und 97. wenn wir weitermachen: wird PARIS bald entvölkert sein.»
SOUNDTRACK. die orgel aus 95 (vinyl), die gitarre aus 93 (gut gespielt: live) und die trompete aus 91 (sehr laut, wirklich sehr laut).
GALERIE. herr win live in belleville. corto (siehe unten links) grüsst die prinzessin.

 

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