Ix Mermann: Die erste Reise nach Tengor
Blick vom Bahnhof auf die Stadtparkanlagen
«Nach anderthalb Stunden Warten auf einen Zug sieht der Reisende nur noch dessen Schlusslichter aus der Bahnhofshalle verschwinden. Dabei war er nur schnell eine Tageszeitung kaufen gegangen. Zuerst denkt er, es reiche vielleicht noch, hinten auf den fahrenden Zug aufzuspringen, hinten, auf den Wagen mit den offenen Türen. Aber der Schein trügt. Die Türen sind von Innen fest verschlossen und der Reisende ist verdammt, wieder Stunden auf den nächsten Zug zu warten, der vielleicht erst am Mittag, vielleicht am Spätnachmittag nach Tengor abfährt. Lange Stunden warten in dieser schwülen, schweisstreibenden Dämmerung unter dem schweren Duft blühender Bäume, hier, in dieser Stadt, wo das Geschwätz und Gezänk der Weiber und das beharrliche Gerede der Bettler lauter ist als der Lärm der unzähligen Autos in den Strassen.» Der Zug überquert drei hohe Viadukte, die den Mäanderlauf des meerwärts ziehenden Flusses überspannen, bis er die Stadt endlich zurückgelassen hat. Die Silhouette von Ess verschwindet am Abendhimmel und man findet endlich Zeit, sich im Zug umzusehen, das Gepäck in die Netze hinaufzustemmen, sich bequem zu setzen und Ess langsam zu vergessen. Als es endlich dunkel wird, verblasst auch die Wirklichkeit auf dem Weg nach Tengor ans Meer, wo einen der Morgen erwarten wird. Jeder Reisende im Zug freut sich auf die Ankunft in Tengor, der Stadt der Treppen, wo durch die Lage der Stadt bedingt keine Autos fahren und nur schnellfüssige Träger leichte Sänften die Treppen hinauf und hinunter tragen. Jeder Reisende freut sich auf Tengor, die Stadt der rauschenden Flüsse, der stürzenden Bäche und sprudelnden Brunnen, Tengor, die Stadt des Meeres. Die Fahrt nach Tengor ist mühsam und lang. Die Nacht kennt zwischen Ess und Tengor keine Lichter, keine Ablenkung. Man schätzt deshalb die Gesellschaft angenehmer Mitreisender, den Zeitvertrieb unterhaltender Gespräche. Der letzte Zug nach Tengor fährt jede Nacht und ist überfüllt mit Menschen und Waren. Die Reisenden sitzen zwischen Kisten und Körben und Schachteln, ja, die Schachteln nehmen den grössten Raum ein, füllen ganze Wagen, so dass für die Fahrgäste nur in den vordersten Wagen zusammengerückt Platz zum Sitzen bleibt. Niemand weiss, was in den Kisten und Schachteln transportiert wird, auch der Schaffner kann darüber keine Auskunft geben, und so richtet sich die Schimpfkanonade eines Angetrunkenen gegen unbekanntes Transportgut, dem Platz zu machen auch er gezwungen war. Unter Erzählungen über Reisen in andere Städte vergeht die Zeit. Eine Dame, die unbequem auf einem grossen Koffer sitzt, erzählt von ihrer Reise und steht dabei immer wieder auf, aber keiner der Herren, die ihr aufmerksam zuhören, bietet ihr seinen Platz an, lässt sie auf dem bequemeren Polster sitzend weitererzählen. Verschiedene Reisende sind bereits eingeschlafen mit dem Rhythmus der Wagenräder und man verpasst nach langen Nachtstunden beinahe des Heraufziehen der Dämmerung, die das Nahen des Ziels anzeigt. Endlich ist die Landschaft wieder sichtbar, unüberschaubarer Buschwald steht farblos bis zum Horizont. Je höher die Sonne steigt, desto farbiger wird das Land entlang der Bahnlinie. Endlich ertönt der erwartete lange Pfiff der Lokomotive und der Zug fährt nach kurzer, ruhiger Fahrt durch die Vorstadt im staubigen Bahnhof von Tengor ein. Die Träger stehen auf dem Bahnsteig bereit, die Reisenden steigen aus und strecken sich in der vormittäglich frischen Luft, vertreten sich die Beine und übergeben den Trägern ihr Gepäck, bahnen sich einen Weg durch die Wartenden, Händler, Männer, Frauen. Auf dem Bahnsteig türmen sich die Waren, Kisten und Käfige, angekettete Tiere, Kühe, Rinder und Stiere warten auf den Verlad in die Wagen am hinteren Ende des Zuges. Bevor man recht angekommen ist in Tengor, nimmt man sich vor, möglichst schnell auf die Dünen zu steigen, um hinunter aufs Meer zu schauen, die Weitsicht, die Farben des Wassers und die Frische der Seeluft zu geniessen. Jeder Reisende, der schon öfter in Tengor war, weiss bereits jetzt, dass es nie zu dem Gang auf die Dünen kommen wird, zu beschäftigend ist das Treiben in den Strassen von Tengor, zu kurz wird der Aufenthalt sein. Jeder ist sich bewusst, dass er abreisen wird, ohne das Meer gesehen zu haben, dass er Tengor verlassen und sich im Zug sagen wird, er werde das nächste mal bestimmt nicht versäumen, sofort auf die Dünen zu steigen und das Meer zu betrachten, um nachher zu Hause von der wundervollen Aussicht erzählen zu können. Kein Reisender kennt den Hafen von Tengor, das Treiben an den Quais und Molen und an den Anlegestellen der Schiffe. Obwohl kein Verbot zur Besichtigung besteht, verkehren hier nur Einheimische. In Tengor braucht niemand ein Hotel oder eine Herberge zu suchen. Schon am Bahnhof wird man von einem Portier in Empfang genommen und zu einem (in jedem Fall) annehmbaren Hotel geführt. Die Menschenkenntnis der Hotelangestellten in Tengor ist sprichwörtlich, niemand hat sich je beschwert. Und so steht man, ohne noch Zeit zum Überdenken der Lage gehabt zu haben, in der Eingangshalle eines Hotels, hält den Zimmerschlüssel in der Hand und ist überrascht, wie schnell man zu einem Zimmer gekommen ist. Man überquert mit zielstrebigen Schritten den Innenhof, wie wenn man schon oft hier logiert hätte, findet am anderen Ende des Hofes die Treppe in den ersten Stock und erreicht so über die Galerie das Zimmer. Man öffnet die Fenster, schaut in die helle, schmale Gasse hinaus und überlegt sich bereits jetzt, kaum ein Stunde nach der Ankunft, ob man den Aufenthalt nicht ein paar Tage verlängern soll, obwohl man weiss, dass man wird abreisen müssen, dass man zu Hause zurückerwartet wird. (Würde jeder Durchreisende in Tengor bleiben, würde die Stadt langsam wachsen, würde noch mehr Abstand zum Meer gewinnen, bis sie schliesslich zur anonymen Grossstadt geworden wäre.) Am zweiten oder dritten Tag reist man wieder ab, und alle Gedanken drehen sich nur noch um das unbekümmerte und unbeschwerte Leben in Tengor. Erst wenn man wieder im Zug sitzt, Tengor langsam vergisst, wird einem bewusst, dass man keinen Schritt aus dem Hotel getan hat, dass man wirklich nicht auf den Dünen war und weder das Meer noch den gigantischen Hafen gesehen hat. Schmerzlich ist die Erkenntnis, dass alle Erinnerungen an Tengor unhaltbar, zugleich Gerüchte, sind, dass man niemandem wird Genaues erzählen können. Das nächste mal, schwört sich jeder Reisende bevor ihm im überfüllten Zug die Augen zufallen, wird man sich mehr Zeit lassen, obwohl man weiss, dass man wahrscheinlich lange nicht nach Tengor zurückkehren wird, zu beschwerlich ist die Reise.
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