Claude Frey: Grenzstadt Tengor

 

Augustinerstift Tengor (Gründung des Bischofs Ulrich von Sankt Onz 1125, Umbau und Erweiterung unter Abt Luzius II. zu Sankt Ulrich 1826)

 

Die junge Grenzstadt Tengor entstand erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts durch den Zusammenschluss verschiedener kleinerer Gemeinden (Hofen, Hausen und Bach). 1947 wurde mit der Registrierung der zehntausendsten Einwohnerin die statistische Grenze zur Stadt überschritten.

1125 gründete Bischof Ulrich I. von Sankt Onz vor den Toren der Stadt das Augustinerstift Tengor, dessen Namen die heutige Stadt behalten hat. Das Stift befand sich zunächst in unmittelbarer Grenznähe, wurde jedoch nach seiner Zerstörung 1650 am heutigen Ort neu aufgebaut. Seit der Säkularisierung des Klosters 1848 befindet sich eine Lehranstalt in den Klostergebäuden.

Die Stadt Tengor hat ihre Wurzeln in drei Dörfern, die am Hangfuss des Seerückens um die Einschnitte von Bachtobeln entstanden. 830 wurde Bach (bah) erstmals urkundlich erwähnt, 1125 folgte Hofen (hoven), 1159 Hausen (husen). Inzwischen sind die Weiden und Rebberge zwischen den alten Dorfkernen mit Wohnquartieren und Gewerbebetrieben überbaut. Die alte Struktur der drei Dörfer hat sich im Ortsbild bis heute erhalten. Während Hofen mit seinen zahlreichen Schlösschen und ehemaligen Landsitzen vornehm erscheint, dominieren in Hausen die Gewerbebauten. Bach hat sich dagegen im Kern seinen ländlichen Charakter bewahrt und scheint auf den ersten Blick von der Modernisierung kaum berührt.

Nach der Eroberung durch die Eidgenossen 1460 wurde die Landesgegend um Tengor zum Grenzraum mit eigenen politischen Strukturen. Der Wiener Kongress von 1815 brachte eine Neuordnung für Europa, die die Landesgrenze mit neuer Bedeutung erfüllte. 1818 entstand das erste Wach- und Zollhaus in Tengor. Der kleine klösterliche Markt wuchs zum Zoll- und Handelsplatz.

Die Beziehung zur benachbarten ausländischen Stadt Sankt Onz und der Austausch von Waren, Arbeitskräften und Dienstleistungen hat für die Geschichte Tengors seit den Anfängen grösste Bedeutung. Die Gegend bildete das natürliche Hinterland für Sankt Onz. Die Tengoreer Milchbauern versorgten die Stadt mit ihren Produkten, während das Sankt Onzer Ladenangebot ganz auf die Kundschaft aus den nahen Dörfern ausgerichtet war. Sie kaufte hier Werkzeuge, Haushaltsbedarf, Kleider und Schuhe, während die Sankt Onzer vor allem in Tengor günstig Brot, Mehl, Teigwaren, Zucker, Kaffee und Zigarren besorgten.

1871 und 1875 wurden die Bahnverbindungen nach Horn und Wilen eingeweiht. Mit der Erschliessung durch die Eisenbahn erlebte Tengor einen Boom und die gesamte Gegend einen Aufschwung. Sankt Onz profitierte vom Tengoreer Kapitalexport und Filialgründungen, Tengor von den Vorteilen der Grenzlage, den Arbeitskräften und Märkten. Das Ortsbild wandelte sich vom Dorf zur Gartenstadt. In den 1830er Jahren entstand die Hauptstrasse zwischen dem Kloster, Hofen und Sankt Onz. 1862 erhielt die Hauptstrasse ihre erste Beleuchtung, 1872 wurde sie mit einem Trottoir zum eigentlichen Boulevard ausgebaut.

Eine wesentliche Rolle bei der inneren Entwicklung spielten die Vereine und das Gewerbe. Der Bau der Sankt Onzerstrasse zwischen Hofen und Sankt Onz bildete mit der Hauptstrasse den Rahmen des Gebietes, das während des nun einsetzenden Booms mit Wohn- und Gewerbebauten besiedelt wurde. Als politische Folge der raschen Entwicklung wurde das mit Hofen vereinte Tengor 1874 anstelle von Seehof zum Bezirkshauptort. Das Wachstum hielt bis zum Ersten Weltkrieg an. 1911 wurde unter finanzieller Beteiligung der Stadt Sankt Onz der Bau der Bahn vollendet.

Die Schliessung der Grenze im Ersten Weltkrieg führte für Tengor und Hausen zur vermehrten Unabhängigkeit von Sankt Onz. Die wirtschaftlichen Einschränkungen durch Handels- und Zollpolitik blieben nach dem Krieg bestehen. Dennoch darf man nicht vergessen, dass die jahrelangen engen Beziehungen zahlreiche familiäre Verflechtungen zur Folge hatten. Viele Sankt Onzer hatten um die Jahrhundertwende Unternehmen in Tengor gegründet, manche wohnten auch hier und hatten in Tengoreer Familien eingeheiratet.

Für den Alltag der Tengoreer und Sankt Onzer markierte auch die Absperrung der Grenze im Zweiten Weltkrieg einen scharfen Einschnitt. Kontakte zu Verwandten und Freunden waren über die Grenze jahrelang nicht möglich. Ein Grenzzaum mit Stacheldraht trennte Tengor und Sankt Onz. Während und nach dem Krieg war die Grenzstadt Austauschort für Kriegsgefangene und Einreiseort für Rückwanderer. Bei Kriegsende trafen sich deutsche und alliierte Unterhändler in Tengor und nahmen die guten Dienste des Bezirksstatthalters in Anspruch. Nach dem Krieg kamen tausende von Kriegsgefangenen, ehemaligen Lagerinsassen und Zwangsarbeitern durch Tengor und wurden hier versorgt.

Die Grenzschliessung während des Krieges führte langfristig zu einer Entfremdung zwischen den Menschen. 1946 gab es zwar Nothilfe-Aktionen in Tengor für die hungerleidenden Nachbarn. Auf die Dauer überwog jedoch das Misstrauen gegenüber Deutschland, vor allem aber gegenüber der Stadt mit ihren Verlockungen, dem Vergnügungsviertel und dem Spielcasino.

Die Lage an der Grenze war vorübergehend Standortnachteil, aber nicht für lange Zeit. Der unmittelbaren Nachkriegszeit folgte 1960 bis 1975 die Hochkonjunktur, die das Ortsbild von Tengor wesentlich veränderte. Zahlreich Neubauten und sogar Hochhäuser entstanden. Im Bildungssektor hatte Tengor seit der Gründung der Kantonalen Lehranstalt im ehemaligen Augustinerstift 1833 überregionale Bedeutung. Bereits 1893 kam eine Berufsschule hinzu. Seit der Gründung der Kantonsschule 1969 ist das Angebot an weiterführenden Schulen vollständig. Mit der Zunahme des individuellen Verkehrs wuchsen auch der Reiseverkehr an der Grenze und der Einkaufstourismus. In den 70er Jahren entstanden die ersten Einkaufszentren, die auf diese Kundschaft ausgerichtet waren.

Tengor kann heute wieder von der Grenzlage profitieren. Der Sog qualifizierter Arbeitkräfte in den Grossraum Zett/Hagenlohe wird durch Grenzgänger ausgeglichen. Die Grenzstadt ist zudem ein wichtiger Standort für alle grösseren Banken. Die Zukunft Tengors wird geprägt sein von der Entwicklung der eigenen Identität, der Partnerschaft mit Sankt Onz, der Bedeutung der Grenze im Hinblick auf die EU-Politik des Landes und von der Bewältigung der verkehrs- und ortsplanerischen Aufgaben, die unter anderem mit der neuen Autobahn verbunden sind. Die Nationalstrasse bringt Tengor wirtschaftliche Vorteile: Sie verbindet mit den Grossräumen Süddeutschlands und Zetts. Kehrseite der Medaille sind die Probleme, die der zunehmende Verkehr aufwirft und die Gefahr der Zersiedelung der attraktiven Seelandschaft.

 

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