alex meszmer
travelogue - wo sind wir, wenn wir reisen?

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ein märchen als auslöser.

hans im glück. das märchen hat mich immer fasziniert. vor allem, weil ich nicht richtig fassen konnte, was hans da eigentlich macht. ist er nur dumm, indem er alles, was er hat, vertauscht? (selig sind die geistig armen, denn ihrer ist das himmelreich ...) ist die geschichte nicht doch supermoralisch und sieht verdienst als etwas vergängliches an? oder ist es gar ein märchen, das von der ueberwindung der wünsche und des egos handelt und einen hin zur selbstlosigkeit führen soll: eine erzählung mit einer fast schon buddhistischen moral! da zieht er los, gibt alles her und ist doch glücklich! sollte das wirklich so einfach sein? dann fiel mir oskar wilde ein und sein ausspruch über die zwei schlimmsten dinge im leben: 1. wenn wünsche nicht in erfüllung gehen; 2. wenn sie es tun ...
die psychoanalyse hält ihre eigenen deutungsmöglichkeiten parat und wenn man will kann man das märchen als ödipalen triumph lesen: hans gibt alles auf um zu seiner mutter zurück zu kehren!

aehnlich verschwommen und undeutlich ist der begriff glück: ein vielbesetzter begriff mit einer vielzahl von deutungsmöglichkeiten. bei einer google suche im internet erhält man etwa 1 900 000 links zu dem begriff. diese führen zu menschen die diesen namen tragen (alois glück, ihr bundestagsabgeordneter!), zu astrologischen beratungsstellen, glücksforschern, glücksratgebern, heilsbringern, glücksarchiven, spiritistischen und okkulten «führern» und zu einer grossen zahl von pornoseiten.
glück als umfassenden begriff gibt es so auch nur in der deutschen sprache: glücklich sein, glück haben und glück empfinden (im engl: luck, pleasure, happiness) sind in den anderen sprachen entweder deutlich unterschieden, oder von der bedeutung verschieden kombiniert. schon allein aus diesem grund entstehen unterschiedliche prioritäten für die suche nach glück.

 

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ICH > WEG
reisen haben immer einen ungewissen beigeschmack: letzendlich weiss man nie, ob man zurückkommt. der reisende begibt sich ins ungewisse, ins neue und er kann nicht vorausschauen, ob er den abenteuern gewachsen sein wird, die die reise für ihn bereithält. die pilgerfahrt, der kreuzzug, die entdeckungsreise, die expedition, das abenteuer, die immigration bedeuten zuerst einmal: ein ort wird verlassen - aber ob ein anderer erreicht wird, steht in den sternen.
die suche bestimmt das vorgehen und, ist etwas gefunden, dann kann über heimkehr oder information der hinterbliebenen nachgedacht werden. während der suche spielt die zeit keine rolle; solche expeditionen sind einem «müssen» enthoben, denn die entdeckung des neuen braucht zeit: der raum muss durchmessen werden und dann folgt: die beobachtung, die erforschung, der rückschlag, der ueberlebenskampf. natürlich werden reisen geplant, proviant muss mitgenommen werden, reiserouten festgelegt; pässe und passierscheine werden ausgestellt. aber planungen werden immer wieder durchkreuzt durch unvorhergesehenes: seeungeheuer und drachen (aengste); stürme, vulkane, erdbeben (naturgewalten) und nymphen oder schöne jungfrauen (liebe) halten den reisenden auf oder versuchen ihn zum bleiben zu bewegen.

 

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WEG < ICH
die reise ist auch immer ein weg zu sich. die überstandenen abenteuer geben dem reisenden das gefühl etwas vollbracht zu haben: bis hierher bin ich gekommen! die erlebnisse der reise erlauben den blick auf den alltag zu verändern: was wichtig ist wird neu definiert aus dem was war und dem was erlebt wurde. die rückkehr bedeutet dann auch: sein haus neu einrichten; souvenirs werden aufgestellt und geben auskunft über die reise.

 

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ORT <> ORT
orte können gegen orte vertauscht werden, oder besser man tauscht ihre wirklichkeiten. «ich befand mich damals in deutschland, wohin mich der krieg, der dort noch nicht beendet ist, gerufen hatte», schreibt descartes in seinem discours de la méthode (ii 1). er hatte die wissenschaftlichen studien aufgegeben, um im «buch der welt» (i 14)zu lesen, war auf reisen gegangen, um «höfe und heere» (i 15) kennen zu lernen. der winter überrascht ihn in süddeutschland und hält ihn in einem quartier fest, «wo ich», so fährt descartes fort, «ohne zerstreuende unterhaltung und überdies zum glück - ohne von sorgen oder leidenschaften geplagt zu sein, den ganzen tag allein in einer warmen stube eingeschlossen blieb und hier alle musse fand, mich mit meinen gedanken zu unterhalten.» ... descartes hatte seine studien aufgegeben, war seiner studierstube entkommen und auf reisen gegangen. aber auch die reise musste er unterbrechen. und der punkt der unterbrechung, der moment des innehaltens, wird zu einem herd, einem brennpunkt, der die reise intensiviert, die wege in eine methode, die extensive bewegung in eine reise in gedanken verwandelt, die es descartes erlaubt, an ort und stelle bleiben zu können.
... descartes verhält sich stoisch. als kosmopolit kann er sich überall einrichten, zuhause fühlen und, wenn die umstände nicht allzu widrig sind, ziemlich sorgenfrei leben. ein kleines geheiztes zimmer ohne bibliothek fokussiert die universalität der welt. das haus repräsentiert als teil das ganze. denn für den stoiker ist die welt selbst ein haushalt, in dem alle lebewesen gut nachbarlich und wohlgeordnet zusammenwohnen können. so fühlt er sich auch in der winterlichen einsamkeit nicht allein und verlassen.
ganz anders beschreibt der cartesianer pascal das gefühl in den eigenen vier wänden. er glaubt, «dass alles unglück der menschen dem einen entstammt, dass sie unfähig sind, in ruhe allein in ihrem zimmer bleiben zu könne. kein mensch, der genug zum leben hat, würde sich, wenn er es nur verstünde, zufrieden zuhause zu bleiben, aufmachen, um die meere zu befahren oder eine festung zu belagern. unfähig zur ruhe und zur leidenschaftslosigkeit kann es der mensch nicht bei sich zuhause aushalten. er kann sich in dieser welt nicht zuhause fühlen. als fremder hat er sich in das verlies ihrer unendlichen räume verirrt (72). er will der welt entfliehen und kann es nicht so bleibt ihm nur die zerstreuung.»

 

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orte können sich durch abwesenheiten verbessern oder ändern. (ausschlussparadoxon: z.b. woody allen: ich würde nie in einen tennisclub eintreten, der leute wie mich als mitglieder akzeptiert!) manche orte sind nur durch die eigene abwesenheit von qualität. sie bleiben sehnsuchtsvoll erwartete paradiese. die sehnsucht spielt dabei eine grössere rolle als deren erfüllung. erfüllung bedeutet, dass man sich einen neuen sehnsuchtspunkt suchen muss. und erfüllung bedeutet auch: die sehnsucht wird enttäuscht, da sie erfüllt wird.

das schönste an tokio ist mcdonald's
das schönste an stockholm ist mcdonald's
das schönste an florenz ist mcdonald's
peking und moskau haben bis jetzt noch nichts schönes

standardisierungen machen es möglich zu reisen und seine gewohnheiten beizubehalten. der andere ort ist dann nicht mehr fremd, weil das fremde durch bekanntes vermittelt wird. irritationen entstehen erst wenn gewohnheiten durchbrochen werden müssen. das abenteuer des weiterziehens und neues zu erleben ist immer noch prickelnd; der pauschalurlaub, der all-inclusive club in der dominikanischen republik oder in aegypten nehmen dem reisen die schärfe: keine auseinandersetzungen mehr mit fremden sprachen, fremdem essen oder fremden gebräuchen, denn das reiseziel wird dem zuhause möglichst genau angeglichen. orte werden ausgetauscht.

 

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URBAN <> PROVINZ
die natur in ihrer ausprägung als landschaft wird für den städter gern zum projektionspunkt der inneren einkehr. in der einsamkeit wird er wanderer auf sich selbst zurückgeworfen und erlebt sich und seine umwelt intensiver. erneuert durch eine art natürlicher katharsis, kann er frisch gestärkt in seine urbane wirklichkeit zurückkehren um dort seinen mann zu stehen. die konzentration erfolgt durch eine verbindung mit den urelementen - der rückbesinnung auf das wesentliche und bildende element.
die stadt wirkt dann als zerstreuungspunkt (paul virillo bezeichnet tokio als bewohnbare zirkulation); sie entspräche in dem fall einer dauernden reise, an der die menschen teilnehmen. die wege sind in bahnen gelenkt, sind festgelegt. jeder ist immer unterwegs: nach hause, zur arbeit, zum essen, ins kino, zum tanzen, freunde zu treffen...
strassen und verkehrswege bestimmen das stadtbild. die dauernde zirkulation kann nicht durchbrochen werden.

 

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GEHEN <> BLEIBEN
einer geht, einer bleibt. bleibt der, der bleibt? oder, geht der, der geht, wirklich? der gehende lässt seinen ursprung zurück. er behält sich die möglichkeit einer rückkehr vor, und in seinen erinnerungen wird er das bild seines ortes mit sich tragen. so bleibt ihm in den wirren der reise ein kontinuum erhalten.
mit dem gehenden geht der bleibende. seine welt erweitert sich alleine durch die möglichkeit auch fortgehen zu können. und seine welt verändert sich durch diese möglichkeit.

erneuerung oder tradition - dies scheint eine der in der moderne am meisten gestellten grundfrage zu sein, deren beantwortung den künstlern jedenfalls nicht schwer fiel. mit der tradition ist zu brechen! die erneuerung ist das gute. aber geht das auch noch in unserer kultur?
eigenartig nur, dass der mechanismus der tradition so gross ist, dass die erneuerungen immer wieder aufgesogen und verbraucht werden. eigentlich ist die erneuerung nur bewegung am rand.