matthias kuhn
travelogue - suchen statt finden

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«eigentlich suchen wir immer. das gelobte land, den gral oder die autoschlüssel.» bisschen salopp formuliert. aber wohl wahr. das projekt travelogue macht sich auf den weg und schreibt das reisetagbuch einer uferlosen suche. oder besser: trägt das material vieler suchender zusammen und macht andeutungen, wo was zu suchen ist, wer wo was gesucht hat und wer wo fündig geworden ist.

 

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wenn wir etwas suchen bewegen wir uns, stecken die nase in kisten und kästen, leeren taschen und säcke, kehren das unterste zuoberst. auch bildlich gesprochen. nicht immer suchen wir schliesslich bloss die schlüssel oder die brille ... nicht immer haben wir was wir suchen vorher verloren ...

alle suchen haben etwas gemein: eine unglaubliche energie treibt uns an, ein wille zum finden gewissermassen, und eine zunehmende ungeduld erfasst uns, wenn die suche zu lange dauert. ganz gleich ob wir in den papieren herumkramen um eine verlegte notiz wiederzufinden, oder ob wir einen job suchen, eine günstige wohnung, eine geeignete wanderroute, die partnerin fürs leben ... es ist immer dasselbe ...

 

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DIE SUCHE NACH DEM GLÜCK
eine der vertracktesten suchen ist die suche nach dem glück. vertrackt vor allem deshalb, weil wir gar keine genaue vorstellung vom gegenstand unserer suche haben. vertrackt auch, weil wir keine ahnung haben, wo es zu finden ist. nicht gerade zu unserer ermutigung gibt uns die literatur viele beispiele, die zeigen, dass viele suchende gescheitert sind und sich illusionen gemacht haben. diejenigen - nur zum beispiel - die bessere welten gesucht haben, sind mit ihren utopien gescheitert. dass wir ihre visionen heute utopisch nennen, spricht für sich.

eigentlich ist es uns längst klar, dass das glück - oder mindestens das dauerhafte - nicht gefunden werden kann. trotzdem macht die suche sinn: denn solange wir suchen haben wir träume. und ausserdem sind wir beschäftigt und haben nicht die zeit, uns allzuviele gedanken zu machen darüber, wie es sein wird, wenn wir nicht fündig werden sollten. im besten fall dauert die suche ein leben lang und wir geben die hoffnung nie auf ...

 

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DER SINN DES LEBENS
mit der frage nach dem glück ist auch die frage nach dem sinn des lebens verbunden. klar sagt zum beispiel das net-lexikon: «der sinn des lebens ist das, was den menschen wichtig erscheint und was ihrem leben eine bedeutung gibt.» die antwort eröffnet natürlich mehr fragen als sie beantworten kann. es braucht für die meisten mehr als ein leben herauszufinden, was wichtig ist und was dem eigenen leben eine bedeutung gibt. da erscheint die wohl berühmteste antwort auf die frage nach dem sinn des lebens nicht viel absurder:

im roman «a hitchhiker's guide to galaxy» wird der supercomputer «deep thought» programmiert die «antwort auf das leben, auf das universum, auf alles» zu errechnen. nach 7,5 millionen jahren ist er am ziel. die antwort lautet: 42. dazu meint der computer lakonisch: «i think the problem, to be quite honest with you, is that you've never actually known what the question is.» obwohl das satirisch gemeint war: irgendwo hier liegt auch bei dieser suche das problem: wonach suchen wir eigentlich? und was tun, wenn wir die antwort haben? oder am ziel sind?

 

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REISEN UND SUCHEN
suchende fahren überall hin um zu suchen: in die berge und ans meer, in ferne länder und (bis heute: nur in der fiktion) auch in entfernte galaxien, in die vergangenheit und in die zukunft ... und dann führen die reisen auch immer wieder in den eigenen kopf, in individuelle welten, wo in der vorstellung alles möglich ist.

immer wieder fahren wir weg, lassen uns durch nichts und niemanden entmutigen. immer wieder verlassen wir unsere angestammten plätze, streifen in der welt umher, sehen und erfahren fremdes und kehren wieder nach hause zurück. die fremde öffnet uns den blick und wir sehen nachher auch scheinbar vertrautes für kurze zeit mit diesem neuen blick. wenn wir zuhause bleiben würden, würde uns vertrautes langweilig. also brechen wir immer wieder auf und kehren wieder zurück, brechen abermals auf und kehren von neuem zurück.

manchmal kommt uns der verdacht, dass die enge jeder heimat nur so erträglich sei: indem wir sie kraft unserer reisen immer wieder sprengen. gleichzeitig wundern wir uns, dass uns reisende zu hause besuchen, für die unsere heimat alle kriterien der fremde erfüllt. und wir fragen uns in dieser paradoxen lage, was sie wohl nach hause tragen werden als erfahrung aus der fremde ...

die reisen, von denen der reisende nicht mehr zurückkehrt, werden von den zurückgebliebenen gerne als flucht gesehen. die zurückgebliebenen argwöhnen, die haltung, dass es anderswo besser sei als zuhause, sei ein trugschluss. denn sobald man am neuen ort heimisch, dieser neue ort alltäglich geworden sei, müsse man wieder fliehen, nur um einen ort zu finden, der wieder den ansprüchen des neuen und besseren genüge. und so weiter und so fort. ad absurdum. das heisst dann doch: wer an einem neuen ort glücklich wird, wird immer auf der flucht sein. oder immer auf der suche. je nachdem wie man das sieht. so spannend wie banal: die reise wie das leben.

 

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UTOPIEN UND BESSERE WELTEN
die schriftsteller hatten immer schon die besten möglichkeiten von dieser welt und aus ihrem alltag wegzukommen: in der fiktion, die ihnen aus der feder floss. «warum soll denn eine geschickte fiktion so gar verächtlich und verwerflich sein?» fragte johann gottfried schnabel im vorwort zu seiner insel felsenburg, der wunderlichen fata einiger seefahrer, wie er es nennt. wieso, fragt er, sollen wir nur immer lauter wahrheiten schreiben? obwohl die insel felsenburg, auf der schnabel eine art utopischen staat erfindet, durchaus real ist, nichts zauberisch unwirkliches jedenfalls begegnet uns dort, muss der autor alle fantasie aufbieten, um seine geschichte glaubwürdig ins werk zu setzen. tausenderlei tricks braucht er, um seine unverheirateten männer und frauen nach der insel felsenburg gelangen zu lassen, um sie dort seinen gegenentwurf zu europa bevölkern zu lassen ... das wesentliche aber ist dies: dass diese insel ihm den gegenentwurf überhaupt ermöglicht. fernab jeden einflusses der realen welt entsteht eine welt nach wunsch, in der vermeintlich alles gerecht zu und her geht, in der nicht purer eigennutz im vordergrund steht, in der gewissermassen nach gemeinsamen regeln die urzelle eines neuen staates entstehen kann.

auch bei francis bacon sind es seefahrer, diesmal von peru nach china und japan unterwegs, die nach einer nächtlichen fahrt im hellen tageslicht des morgens auf die insel neu-atlantis stossen. und selbst bei thomas more ist es ein seefahrer unter dem berühmten amerigo vespucci, der auf die sagenhafte insel utopia stösst und dort eine art kommunistischen staat vorfindet, «wo alles allen gehört» und jeder sicher ist, «dass keinem je das geringste mangelt - sofern nur dafür gesorgt ist, dass die öffentlichen speicher stets gefüllt sind». bei der genaue betrachtung beider inselstaaten verdichtet sich der verdacht wie nahe in allen utopien das paradiesische dem total kontrollierten staatswesen steht ...

da hatte es allerdings nur robinson besser: er war fast allein, und seinen einzigen mitbewohner, freitag - «my poor servant» -, hat er zum diener gemacht. so jedenfalls kann der ur-utopische staat funktioniert haben: einer allein lebt nach den eigenen regeln und gesetzen. was ihn natürlich massgeblich unterscheidet ist, dass er immer mit dem ziel der rückkehr in seine angestammte welt vor augen lebte.

immer mit dem ziel der einsamen insel vor augen leben allerdings viele zeitgenössische zivilisationsopfer. «ich habe nie gedacht, dass ich auf einer fernen insel das glück finde, ich wusste immer, dass ich mir selbst nicht entrinnen kann.» so sagte es kürzlich ein ebensolches opfer in einer gesprächsrunde am fernsehen. heisst also: um das glück zu finden muss man zuerst einmal sich selbst entrinnen ... was ein weiteres (uferloses) thema wäre ...

 

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AUF DER SUCHE NACH ANDEREN WELTEN
am übergang der historischen utopien zur modernen science-fiction steht jules verne. nicht nur in seinen insel-romanen - von der propellerinsel bis zu der robinsonade «l'école des robinsons» - hat er von den utopien seiner vorgänger profitiert. auch sein captain nemo oder professor lidenbrock, der eine 20'000 meilen unter dem meeresspiegel, der andere, einsteigend durch einen isländischen vulkan, unter der erdoberfläche, sind verschrobene utopisten.

so weit entfernt sind da die helden der modernen science-fiction nicht. allen voran captain james t. kirk. als beispiel kann der fünfte startrek-kinofilm «the great barrier» dienen. captain kirk durchbricht mit seinem raumschiff - wie seine vorgänger auf ihren schiffen die weltmeere durchkreuzten, ist er mit seinem schiff in den weiten des alls unterwegs: das ist nur eine von zahllosen analogien - die grosse barriere, die bis dahin als undurchdringlich galt. zwar geschieht alles gegen seinen willen, die enterprise, sein raumschiff, wurde von einem irren frömmler, sybok, entführt, aber kirk ist doch mit einer gesunden neugier dabei, denn schliesslich interessiert ihn die vision des verrückten trotzdem.

folgerichtig geht im 20. jahrhundert die ewige suche also im weltall weiter. nachdem auf der erde die weissen flächen auf der weltkarte alle erforscht und vermessen werden konnten, dienen nun - nicht nur in der literarischen und filmischen fiktion - die weiten des alls dem forschungsdrang des menschen. wie die amerikaner auf ihrem weg gegen westen lange vor den rocky mountains standen, steht in «the great barrier» kirk vor dem letzten hindernis, durchbricht es schliesslich und findet den blauen planeten im zentrum der galaxis. kirk und sybok setzen mit ihrem landetrupp ab und machen sich auf die suche - vielleicht ihre letzte: denn wenn es das paradies ist, was sie gefunden haben, dann sind sie am ende ihrer fragen angekommen ...

überhaupt ist das kino, genau wie das automobil, eine reisemaschine. um die ferne zu sehen, müssen wir uns nicht vom fleck bewegen. im gegenteil kommt uns die welt sogar bequem entgegen. in diesem sinne konzentrieren auch die massenmedien die welt im kleinformat und machen uns glauben, dass uns erstens alles was in der welt draussen geschieht etwas angehe, und zweitens die welt uns in der fülle aller informationen immer zur verfügung stehe. vielleicht ist beides ein trugschluss.

 

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DIE BESTE ALLER WELTEN, ODER: ANY WORLD IS BETTER
platon entwirft in seinem dialog «der staat» den idealen staat in dem gerechtigkeit und glück die konstitutiven elemente sind. drei ständen unterhalten diesen staat: die gewerbetreibenden, denen die aufgabe der ernährung und des erwerbs zukommt, die wächter oder krieger, welche die aufgabe haben, die verteidigung nach aussen zu gewährleisten und die herrschenden, die nach den prinzipien von gerechtigkeit und vernunft die leitung übernommen haben. die herrschenden werden nach dem prinzip einer auslese durch erziehung ausgewählt. die anwärter auf herrschende stellen durchlaufen wiederkehrende prüfungen, um ihre fähigkeiten unter beweis zu stellen.

in voltaires candide haben die optimisten das sagen. pangloss beweist noch im grössten unglück, dass in der besten aller welten alles zum besten stehe. und candide hat seine maxime, dass alles immer und unausweichlich zum besten ende führen müsse nur zu gerne übernommen. dass ihnen das geschehen in der wirklichen welt der kriege und erdbeben, des hungers und der verfolgung in ihrem optimismus widerspricht, scheint die beiden nicht zu stören. erst in konstantinopel bringt ihn die weisheit eines alten türken zur raison. zusammen mit der zurückgekauften, weil einst entführten 17-jährigen cunégonde zieht er in ein häuschen und zieht aus allem seinen ganz eigenen schluss: «... il faut cultiver notre jardin.»

 

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SUCHEN STATT FINDEN
eben: die frage am anfang war, was suchen wir wo? wenn wir nicht genau wissen was, noch folglich wo? alles in allem ein grund melancholisch zu werden. rabenschwarz melancholisch vielleicht wie auch candide, der trotz der belustigungen des venezianischen carnevals immer trauriger wird, da auch sein begleiter nicht gerade tröstlich anzuhören ist mit seinen dauernden beteuerungen, dass es auf der welt wenig tugend und kein glück gebe: «excepté peut-être dans eldorado, où personne ne pouvait aller.» ... eldorado ... glücklich, wer es gesehen hat ...

candide und seine begleiter finden eldorado jedenfalls erst jenseits aller berge und flüsse und abgründe, jenseits aller überfälle durch räuber und wilde, erst, nachdem ihre pferde vor erschöpfung gestorben sind und sich die reisenden der empfehlung der vorsehung anvertraut haben ... dann plötzlich taucht eldorado vor ihnen auf und candide haucht nur noch: «voilà pourtant un pays qui vaut mieux que la vestphalie.» besser als zuhause, meint er wahrscheinlich, denn am besten ist eldorado bestimmt nicht, denn ganz der maxime aller suchenden gemäss verlassen sie auch diesen ort wieder. vielleicht ist die befreiung von fräulein cunégonde und die bebauung des eigenen gartens doch das höhere glück ...

bei rabelais gibt es einen weiteren ehrenhaften versuch: gargantua gründet den orden der thelemiten, der einzige und oberste ordensregel heisst: fay ce que vouldras! tu was dir gefällt! des klosters werden alle intriganten, wahrheitsverdreher, taugenichtse, alle larvenhaften tugendwächter, alle wilden ketzer, kummerbolde, alles aktenvolk und teufelsgelichter, die schelme, schurken, säufer am trog und die streithammel verwiesen, auch scheinheilige mönche und enkel der goten, duckmäuser und gimpel finden keinen einlass. mit dieser einzige ordensregel und den strikten aufnahmevorschriften ist alles ganz allein dem willen der ordensbrüder und -schwestern unterworfen. eine prophezeihung jedoch, in die grundmauern der abtei gemeisselt, sagte das ende des ordens voraus ... schlechte aussichten für soviel tugendhaftigkeit.

vielleicht noch ein letzter versuch: zaphod beeblebrox, der held aus «a hitchhiker's guide to the galaxy», hat sich für seine persönliche suche das raumschiff «heart of gold» gekapert. auf die frage, was er denn überhaupt suche, antwortet er: «ich weiss es nicht.» - «wie bitte?» - «ich weiss nicht, was ich suche.» - «warum denn nicht?» - «weil ... weil ... ich glaube, wenn ich's wüsste, würde ich vielleicht nicht mehr danach suchen.»

womit wir dann definitiv wieder am anfang wären.