bettina kugler
inseln der seligen

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von utopia bis saltkrokan: die schönsten inseln liegen zwischen buchdeckeln. ansonsten sollten sie nicht allzu einsam sein.

 

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sie ist der inbegriff unserer sehnsucht nach dem anderen, nach dem stillen abenteuer fernab des alltags, irgendwo weit draussen im ozean und nur per schiff oder im traum erreichbar: die einsame insel. in einem empfangsloch für lästige anrufe, ohne unaufschiebbare termine; frei von den zwängen und pflichten, die auf dem festland von montag bis freitag, oft auch noch am wochenende das einfache dasein zentnerschwer belasten. kein anderes reiseziel ist so klischeebeladen wie die insel, so prototypisch für das bedürfnis nach abstand vom eingespielten betrieb, keines so lauwarm umspült vom schlagergeplätscher verliebter globetrotter zwischen capri und hawaii. wer dringend ferien braucht, einen tapetenwechsel im täglichen grau-in-grau - oder die zweite chance auf ein besseres, zwangloses leben - ist sprichwörtlich reif für die insel. das stille glück wartet am fuss eines leuchtturms, über dessen leuchtend rote mütze hinweg der wind seine wolkenschimmel peitscht. es wird entfesselt in der brandung, die lautstark und ewig-ungerührt ihre pranken gegen den strand schlägt (wie thomas mann, vom bad in der nordsee erfrischt, auf sylt notierte). es schwimmt im endlosen blau, wo nichts den blick verstellt und dennoch dem schritt klare grenzen gesetzt sind: je kleiner die insel, umso grösser das gefühl von geborgenheit und weite zugleich. von erlebnis-praller ereignislosigkeit. vom reichtum der einschränkung.

 

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WOLKENTHEATER, WASSERLICHTSPIELE
nirgendwo sonst konzentrieren sich die sinne so auf das wesentliche: das stündlich wechselnde wolkentheater und die wasserlichtspiele; das schnauben der flut und das kurkonzert segelnder seevögel; den duft von heckenrosen und wildem thymian, den salzgeschmack des meers auf der zunge. nirgends sonst prickelt die luft wie champagner. und nirgendwo sonst zeigt sich der grundwiderspruch des tourismus, der zerstört, was er anpreist, so klar und unverstellt wie auf inseln: massenandrang auf stille rückzugsorte, elementarerfahrung mit allem komfort. «vorn die ostsee, hinten die friedrichstrasse» - so hätt' es nicht nur tucholsky gern.

 

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KLAUSUR FÜR LEIB UND SEELE
inseln sind idealiter orte der selbstfindung, schwimmende irdische paradiesgärten, refugien unverdorbenen oder versuchsterrain unkonventionellen zusammenlebens: klausur für leib und seele. im strudel wechselnder trends sind sie angenehm konservativ. ihre geografische situation macht sie zu eigenbrötlern, bewahrt sie vor kurzlebigen moden und vor dem ungeist der zeit. traditionen, sprachliche prägungen und kulturelle eigenheiten erhalten sich hier beharrlicher als in gebieten mit schnellen verkehrsverbindungen. inseln widersetzen sich unserem bedürfnis nach unbegrenzter mobilität, zwingen uns zu geduld auf dem weg und zum verweilen vor ort - auch noch in zeiten täglicher charterflüge und fährverbindungen. in einer zeit penetranter privatheit im öffentlichen raum steht die insel für den schutz der intimsphäre; in der flut ungefilterter reize und informationen für überschaubarkeit und reduktion. die uhren scheinen hier anders zu ticken, die tage in grosszügigeren zeiteinheiten bemessen zu werden. im beschleunigten lebensrhythmus, angetrieben vom nahezu unbegrenzten angebot an vergnügungen und zerstreuungen, bewahrt sie die ruhe. auf der insel lässt sich beredt schweigen und in den wind sprechen, werfen gedanken ballast ab, wird nicht selten die welt neu erschaffen. «ich hatte die empfindung, als könne man hier ein neues leben voll schweigender glückseligkeit beginnen», schrieb julius rodenberg 1861 über sylt, noch lange bevor feinschmeckerrestaurants und discos unter reetdächern zu lärmen begannen. wenig später war es vorbei mit dem seligen schweigen. «wohl zwanzigtausend gäste schoben sich / auf einer wandelbahn am ufer fort / und hin und her auf diesem einen strich», funkt detlef von liliencron anfang des 20. jahrhunderts von deutschlands nördlichster insel aufs festland. und ahnt noch nichts von knapp drei millionen übernachtungen pro jahr.

 

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MANN IM STRANDKORB
an literarischen pionieren der insellust mangelt es nicht. sie schrieben für ihre inseln die vielleicht besten werbetexte: jean-jacques rousseau als einsamer spaziergänger auf der petersinsel im bieler see, george sand mit ihrem schwindsüchtigen geliebten frédéric chopin auf mallorca; thomas mann im strandkorb auf sylt, warm eingepackt in einen frotteemantel bei der zigarette danach; gerhart hauptmann, heimlicher könig der beschaulichen ostseeinsel hiddensee, in mönchskutte an der steilküste des dornbuschs, wo heute sommer für sommer heerscharen literaturbeflissener tagesgäste die ruhe seines einstigen ferienhauses seedorn stören.

 

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HIER WOHNT DER SOMMER
kein wunder, dass es beinahe so viele erfundene archipele wie wirkliche gibt, dass die wohl schönsten inseln zwischen buchdeckeln, in den breiten- und längengraden von zeilen und seiten zu entdecken sind - von den horazischen inseln der seligen bis saltkrokan mit seinen rot leuchtenden bootshäusern, dem landesteg für faule angelnachmittage, den schärenfelsen und birkenwäldchen und wiesen. wo wohnt der sommer, wenn nicht hier? von thomas morus' modellstaat utopia über die im meer versunkenen städte atlantis und vineta bis lummerland, dem königreich von alfons-dem-viertel-vor-zwölften, auf dem gerade mal zwei kleine berge, ein telefonierender könig und zwei untertanen platz haben - nicht zu vergessen eine eisenbahnlinie für lukas, jim knopf und ihre lokomotive emma. kein zufall, dass wir so oft nach dem berühmten buch für die einsame insel gefragt werden. das fernweh nach unversehrten inseln für endlose sommerferientage beginnt oft schon im kinderzimmer, beim schmökern unter der bettdecke oder im baumhaus. und es erfüllt sich bereits beim lesen: inseln und bücher sind seelenverwandt. nicht, dass wir tatsächlich stranden wollten wie robinson crusoe, abgeschnitten von den annehmlichkeiten der zivilisation, den elementen ausgesetzt. nicht, dass wir wie odysseus auf endlosen irrfahrten von eiland zu eiland völlig vergessen wollten, wie die zeit vergeht. nicht, dass wir mutterseelenallein sein möchten mit unseren gedanken, den erinnerungen an frühere tag, dem nachhall abgerissener gespräche wie der graf von montechristo auf der inselfestung château d'if. den kleinen ausstieg aber aus der lauten welt, die wiederentdeckung der langsamkeit, eine befristete zäsur im presto des geschäftigen urbanen lebens erhofft sich die urlauberin, wenn sie die koffer packt und eine insel ansteuert: sei es nun hiddensee oder amrum, teneriffa oder mallorca, grönland oder tahiti; sei es mit dem bikini im gepäck oder ostfriesennerz und gummistiefeln.

 

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MUSCHELSUCHER UNTER PLASTIKPALMEN
auch inseln, die längst den schnellen rhythmus der spassgesellschaft übernommen haben, die schatzinseln der grossen pauschalreiseveranstalter und hotelketten mit ihren aufblasbaren palmen unter trutzigen bettenburgen, locken mit diesem versprechen. inselferien verheissen den rückzug ans ende der welt, wenn auch auf zeit. keiner ist eine insel; jedem seine insel: dem sonnenhungrigen die grillparty am überbevölkerten «ballermann», der wetterfesten ihre autofreie hallig mit velotouren bei windstärke 9. muschelsuchen macht glücklich. mit den füssen im sand ist ein jeder poet der vergänglichkeit. «die seligkeit eines augenblicks verlängert das leben um tausend jahre», sagt ein japanisches sprichwort. zeit genug also für ausgiebige inselspaziergänge - zu fuss oder im liegestuhl. bei wind und wetter. oder im milden schein der leselampe.

 

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