guido piovene |
---------- am 3. august 1925 traf francesco possagno gegen vier uhr nachmittags in aosta ein. obwohl seine wirtschaftliche lage keineswegs blühend war, erkundigte er sich als erstes danach, ob man in aosta ein bad nehmen könne. er richtete diese frage an einen mann von gutbürgerlichem äusseren, der ihm auf der allee, die vom bahnhof zu dem grossen platz führte, begegnete. selbstverständlich, erwiderte der angesprochenen mit dem stolzen ton eines mannes, der die kultur seiner stadt rühmt: selbstverständlich haben wir bäder. wo? nicht direkt in aosta, aber in der nähe. in pre st didier. als sich der mann entfernt hatte, blickte francesco auf die karte. danach lag pre st didier etwa zweiunddreissig kilometer weiter westlich. umso mehr wurde er von dem geräusch überrascht, das ihm entgegendrang, als er den hauptplatz dieser anscheinend so wasserscheuen stadt betrat. zuerst klang es so, als eilten aus den nebenstrassen ein schwarm von frauen herbei und fegten mit seidenen schleppen das pflaster. die illusion war so stark, dass er auf der stelle halt machte und sich umdrehte. später begriff er, dass die strassen von aosta, die von beiden seiten zur mitte hin abfallen, sich um diese stunde in bäche verwandeln. da aosta keine kanalisation besitzt, reinigt man die stadt, indem man das wasser durch die strassen laufen lässt, die davon ein silbernes, wie poliertes aussehen annehmen. das wasser sammelt sich von den bächen zu flüssen, das heisst, es strömt von den gassen in die strassen, und die strassen münden in einen gewaltigen sturzbach. aber an diese kleinigkeiten denkt man später nicht mehr, wenn man sich an aosta erinnert. dann sieht man nur seine klöster und kirchen vor sich, die aus dem grauen stein des gebirges errichtet sind, an dem der regen die körnung zum leuchten bringt, als sei es glimmer. die kleine stadt ist nur der eingegrenzte bezirk um eine kirche, sant’orso, und stant’orso ist nur die einfriedung um das chorgestühl, das kreisförmig um ein grosses, aufgeschlagenen auf dem predigtpult liegendes messbuch angeordnet ist. hier ist der magnetische mittelpunkt um den aosta kreist. sobald man die piazza und die hauptstrassen hinter sich lässt, kommt man in ein geflecht von zumeist zwischen mauern verlaufenden feldwegen, die die stadt gleichsam einzukreisen und zu isolieren scheinen. aus den klostergärten ragen die zweige von obstbäumen; oft stützen sie sich mit der ganzen krone auf die mauer. wenn francesco auf diesen feldwegen nach süden zuging, begegneten ihm die kretins, die einzeln oder in reihen mit dem kochgeschirr vor den türen der mönchsklöster warteten – wenn es männer waren – oder vor den nonnenklöstern, wenn es frauen waren. sie stritten sich darum, der erste zu sein, wenn sich die türflügel öffneten und der pförtner oder die pförtnerin erschien, um die reste der suppe auszuteilen. francesco hatte sich hals über kopf entschlossen, diese stadt der kirchen und klöster aufzusuchen, mit der absicht, sich dort mindestens einen monat lang zu verstecken und dabei nur von wasser, luft und der schönen aussicht zu leben. vor ein paar tagen hatte er in turin bei den pferderennen sein ganzes gled für einen ferienmonat verwettet. da er es aus feigheit nicht über sich brachte, zu hause den verlust zu gestehen, hatte er beschlossen, sich nach aosta zu verbannen und einen monat dort von ein paar hundert lire zu leben. sein entschluss war ihm heldenhaft erschienen, wie es ja so vielen, auch weniger jungen und unreifen menschen geht, die nicht wissen, dass der grösste heroismus gewöhnlich aus einer kleinen angst entsteht und dass eine heldentat nur der schleichweg ist, um einem mutbeweis auszuweichen, und dass es keine helden gäbe, wenn die welt voller mutiger menschen wäre. sich kopfüber, mit geschlossenen augen, ins ungewisse zu stürzen, ist immer nur eine flucht, auch wenn ihr ziel die gefahr ist. sie verbindet zwei feigheiten: die flucht und das die-augen-schliessen, um nicht zu sehen. francesco possagno war glücklich wie alle flüchtlinge. sein glück hatte in dem augenblick begonnen, in dem er mit leeren taschen die rennbahn verliess. wie sehr hatte es ihn amüsiert, die leute zu beobachten, die gleichzeitig mit ihm fortgingen, die einen fröhlich, die anderen ärgerlich! einer hatte ganz offensichtlich verloren und biss sich auf die lippen, dass es zum lachen war. wie dumm fand er den mann, der schlecht gewettet hatte! francesco ging zu fuss, zwischen den beiden baumreihen; bei jedem windhauch fiel staub aus den zweigen. noch nie hatte er so genussreich die landschaft empfunden, obwohl sie in der nähe der rennbahn durchaus nichts reizvolles hatte. aber gerade das machte ihm freude: zu sehen, wie weit seine innere ausgeglichenheit ging, so weit, dass er sich an einem nichts zu erfreuen vermochte. ich habe beim wetten verloren, dachte er, aber ich mache mir deshalb keine gedanken, sondern bin gelassen und glücklich. ich könnte überhaupt nicht glücklicher sein. alles, worauf seine blicke fielen, war poetisch und bedeutend. schon von weitem erkannte er die äderung eines blattes, und er erinnerte sich, was er in der schule über die grüne farbe der blätter gelernt hatte. er glaubte, dass es die menschen, denen er begegnete, geradezu kränken müsste, wenn sie wissen könnten – nicht nur mit worten, sondern mit dem herzen – wie gleichgültig sie ihm waren und wie unabhängig und glücklich er sich fühlte. es war ihm eine genugtuung wie der besitz einer waffe – er wusste nicht recht, ob des angriffs oder des spottes – gegen das ganze menschliche geschlecht. man hätte ihn beleidigen können, ohne das er auch nur den kopf gewendet hätte. er sah jemanden mit lachendem gesicht. vielleicht hast du gewonnen, dachte er, aber du kannst nicht mit so jugendlicher sanftheit lächeln und nicht so unbeschwert atmen. er gefiel sich darin, in die sonne zu sehen, dann zu lächeln um das gefühl auszukosten, dass er dazu noch fähig war, schliesslich seine hand zu betrachten – lauter gesten, die er zum erstenmal in ihrem innersten wesen erlebte. vor allem machte er sich mit allem nachdruck klar, wie glücklich er sich fühlte. diese stimmung hatte bis zu seiner ankunft in aosta angehalten. die ersten stunden brauchte er dazu, eine unterkunft zu finden. er machte die runde duch alle wirtshäuser auf der suche nach dem billigsten und mietete sich schliesslich in einer abgelegenen gastwirtschaft ein. sie lag da, wo sich die strasse, gegenüber der einmündung einer engen gasse, zu einer art platz erweiterte. dort bot man ihm für fünf lire die nacht ein zimmer an. um hineinzugelangen, musste er durch einige grössere und bereits besetzte zimmer hindurch. den ersten tag schloss sich francesco in seinem zimmer ein, als ob es genügte, die tür zu verriegeln, damit das bescheidenen logis nicht mehr existierte, so wie ein gefangener aus abscheu vor dem gefängnis seine zelle verbarrikadiert. doch später gewöhnte er sich daran, hinunterzugehen und sich an einen tisch in einer ecke der grossen gaststube zu setzen, um von dort aus ganz ungeniert die gäste zu beobachten. von den wenigen einwohnern der stadt, die in dem lokal verkehrten, hatte er nicht den eindruck, dass sie zu ihrem vergnügen kamen, sondern, dass sie sich hier selbst einsperrten. wirklich konnte man glauben, es mit gefangenen zu tun zu haben, die dazu verurteilt waren, den wein ohne alle mässigung in sich hineinzuschütten und sich brotscheiben mit einem messer so gross wie ein tranchiermesser abzuschneiden. wenn es einen streit gab, liessen sich die unbeteiligten, während sich die gegner rauften, nicht beim essen und trinken stören; sie kommentierten vielmehr nüchtern die angelegenheit und hetzten die streitenden mit der friedlichsten mien gegeneinander auf. die gleiche gelassenheit legten sie auch ihm gegenüber an den tag und schienen seine anwesenheit überhaupt nicht zu bemerken, während er sie doch stundenlang beobachtete. an den querbalken über der tür pflegte der wirt, gleichsam als ladenschild, ein wildhuhn, einen hasen oder ein rebhuhn zu hängen. an die türpfosten gelehnt, sassen seine frau und seine tochter, um aufzupassen, wer hereinkam. die eine trug ein schwarzes, die andere ein rotes kleid, die aber beide weisse tupfen hatten. wenn francesco abends heim kam, ging er steif wie ein stock an den frauen vorbei, da er fürchtete, sie könnten das grüssen vergessen. er war bemüht, vor seinen nachbarn in seinem zimmer zu sein, um sie nicht, wie am zweiten abend nach seiner ankunft, nackt wegen der hitze, auf dem bauch liegen zu sehen. es störte ihn ein wenig, als er erfuhr, dass die gegenüber der osteria einmündende gasse der prostitution diente. am tage war sie wie ausgestorben, aber abends, gegen neun, erschien an jedem fenster ein gesicht – das gesicht einer frau aus den bergdörfern, einer hausfrau, die sich träge anbot. um elf verschwanden die frauen wieder, die lichter erloschen, und die gasse lag wieder wie ausgestorben. nur an der mündung der breiten strasse blieben noch für eine weile die männer zurück, keine rauen gesellen übrigens, mit hinterhältigen oder finsteren blicken, sondern hübsche, freundliche burschen, kleine zuhälter, die auf treppenstufen oder am boden sassen, verstohlene blicke wechselten und sich mit einem knabenhaft hellen klang ihrer stimmen (der francesco einen ähnlichen genuss bereitete wie sein spielverlust) aufs freundschaftlichste unterhielten. in den folgenden tagen machte es sich francesco zur gewohnheit, durch das labyrinth der gassen um den stadtkern zu streifen, ohne sich jedoch weiter als ein paar hundert meter zu entfernen. zuweilen kaufte er sich etwas zu essen und verzehrte es in sant’orso; das wasser dazu schöpfte er aus dem brunnen vor der kirche in seine feldflasche. bei diesen streifzügen hatte er das bestimmte gefühl, dass sich hinter all seinem missgeschick eine besondere bedeutung verbarg, dass nicht der zufall seine schritte lenkte, sie ihn vielmehr zu einem vorbestimmten ziel führten. alles was er dachte, hatte den tonfall der frage. selbst die einfachste feststellung wie dieses wasser ist frisch schien ihm nur obenhin gesehen in sich schlüssig zu sein, aber insgeheim nach einer antwort zu verlangen. in seiner vorstellung übertrieb er noch das labyrinthische der wege, um sich in seinem eindruck zu bestärken, dass sie um einen mittelpunkt kreisten, zu dem es den zugang zu entdecken galt. dieses sonderbare gefühl, zwar herumzuirren, aber immer um einen bestimmten punkt, ähnlich einem hund, der eine flüchtige witterung aufgenommen hat und nun schnuppernd in der erwartung umherstreift, dass ihm der wind weitere informationen zutrage – dieses gefühl steigerte sich in ihm, ohne erkennbaren grund, von tag zu tag. und das bezeugten auch seine jähen bewegungen mit dem kinn bei dem geringsten geräusch oder auch die überraschung, mit der er die gewohnten bilder entdeckte, den schnitt eines anzugs, eines kleides oder die farbe des laubs, der dann immer die enttäuschung auf dem fusse folgte. er liess sich gleichsam von den stunden an die hand nehmen – zerstreut, aber wie ein kind, dem man sagt, es solle die augen zumachen, während das neue spielzeug auf dem tisch seines zimmers aufgebaut wird. vielleicht aber war es der hunger, der seine gedanken den frageton gab. er ass noch weniger, als er sich leisten konnte, da er fürchtete, wenn er sich nicht eine äusserste disziplin auferlegte, nach und nach in ein bequemes sich gehen lassen abzugleiten und dann, mit einer neuen flucht, alles in ein paar tagen zu verschwenden und die sorge um die zukunft dem lieben gott zu überlassen. nachts träumte er immer, bei tische zu sitzen, vor sich üppige und pikante speisen, über die er heisshungrig herfiel. und neben ihm sass jemand, der ihm sagte: genug du platzt sonst! doch um den mann zu ärgern, stopfte er sich erst recht voll und setzte dazu eine überlegene miene auf, stolz auf soviel gefrässigkeit. nach einer woche schien ihm das leben selbst in aosta noch zu teuer, so dass er es für das beste hielt, von jetzt an die täler zu durchwandern, sich mit trockenem brot zu begnügen und nachts auf der erde zu schlafen. bevor er aufbrach, hatte er auf das heldenhafte vorhaben verzichtet, sich in einem hotel als küchenjunge zu verdingen oder der gehilfe eines ochsenhirten zu werden. mit diesem verzicht wollte er sich vor allem die ausgeglichenheit seines planes bestätigen und damit die durchführung seiner pläne garantieren. wenn ich einsehe, was undurchführbar ist, und darauf verzichte, dachte er, dann ist, was übrig bleibt, vernünftig, und ich weiss, dass ich es auch durchführen kann. er leistete sich den luxus, bis zum ausgang des gressoney-tals den zug zu nehmen, wo er sich dann vor der mittagsstunde auf den weg machte und dazu sein erstes brot ass. nur, da er jetzt allein von brot leben musste, hielt er es für nötig, es ohne unterbechung in sich hineinzuschlingen. also kaufte er in jedem ort, durch den er kam, ein brot und trank, im übermass, wasser dazu. da ihm alles andere versagt war, hielt er es für seine pflicht, das, was er ohne schwierigkeiten haben konnte, bis zur neige zu geniessen. er wanderte den ganzen tag, und er unterteilte die strecke in einzelne etappen; aber als das ziel jeder etappe bestimmte er eine brotmahlzeit. ausserdem machte er an jedem brunnen halt und trank so lange, bis er meinte, er habe mit seinem trinken den ganzen brunnen geleert und entlocke ihm mit mühe die letzten tropfen. auf den wiesen rechts und links vom weg blühten rosa und blaue blumen, und die bauern mähten das gras. francesco machte es spass, zuzusehen, wie bei jedem sichelhieb das fallende gras den nebenstehenden halmen eine vibration mitteilte, die wie eine vorankündigung ihres todes war. aber eine stunde nach sonnenuntergang konnte er nicht mehr weiter. das wasser in seinem magen schwappte ihm bis zur kehle hoc, da es die wasserundurchlässigen brotmassen nicht zu durchweichen vermochte. francesco entschloss sich zu einer rats, zumal er in einiger entfernung bereits die lichter von gressoney erkannte. er kletterte über die niedrige mauer und streckte sich auf dem nächsten heuhaufen aus. auf dem rücken liegend, liess er seine augen zu den gipfeln im hintergrund wandern, die zu schweben schienen, da er nicht zugleich das tal sehen konnte; und er erschrak, so anders als zuvor waren sie geworden. unvermittelt zeigte sich eine welt, ohne beziehung zu seiner eigenen, eingetaucht in einen immer klareren sternenhimmel. ihm war, als ob er mit einem schritt in eine ungeahnte region eingetreten sei, die ihm jetzt, vom winde blank gefegt und von den sternen besät, erschien und die zuvor, unsichtbar über seinem kopf, gewartet hatte. dieser gebirgshimmel leuchtete so heftig, dass er ihm brennend herabzustürzen schien; das gefühl war so stark, dass er die augen schloss und sie mit beiden händen bedeckte. dann beobachtete er die schatten auf den bergen, eisig und gewaltig über dem schnee; und selbst das himmelsblau meinte er in den sternen zu sehen, die wie federwolken die gipfel umkränzten. als er erschreckt den blick zurücknahm und auf sich selbst lenkte, brachte er von den bergen einen eisigen lufthauch mit, der ihm unter die kleider ging und ihn erschauern liess. er kroch ins heu und sah auf den boden. ein leises summen und ein erstes kopfweh, das sich jedoch bei jedem pulsschlag an der schläfe ankündigte, lenkten ihn von der angst ab. stattdessen erinnerte er sich, dass heu nachts eine schädliche ausdünstung hat. so legte er sich wieder auf den rücken, schloss die augen und versuchte an nichts zu denken, da er ja am morgen, ob gesund oder krank, auf jeden fall die augen wieder öffnen würde. aber gleichsam ohne sein wissen suchte es in ihm nach gründen, die ihn zum fortgehen bewegen könnten. wenn morgen früh die bauern kommen und das heu aufladen wollen, fragte es nach einer weile solch eifrigen suchens aus ihm, können sie mich da nicht mit der heugabel verletzen? der zweifel war bereits längst in ihm zur gewissheit gereift, als francesco aufsprang, als sei er ihm gerade in diesem augenblick mit unwiderstehlicher überzeugungskraft zu bewusstsein gekommen. sich selbst vortäuschend, einem plötzlichen impuls zu gehorchen, rannte er los und blieb nicht eher stehen, als bis er vor einem gasthof stand, der mit seiner rotbemalten fassade hinter einer kleinen allee mit zwei baumreihen aufragte. man führte ihn in ein zimmer, das statt fensterläden vorhänge aus schmutzigem samt hatte. er ging zu bett, übrigens überrascht, seine augen im spiegel so heiter und fröhlich gefunden zu haben. dabei hatte er, nach dieser komödie, die er sich selbst vorgespielt hatte, kaum grund zur zufriedenheit: denn ersah sich jetzt in bezug aufs essen und schlafen zu kompromissen gezwungen, sah sich nun wirklich von seinen verhältnissen abhängig, wie eine lange ehrbar gebliebene frau nach ihrem ersten ehebruch. er schlief bis in den späten vormittag hinein, und sobald er wach wurde, nahm ihn die erinnerung an aosta gefangen, und zwar auf eine weise, als handelte es sich um eine person. es war etwas von zweifel und unsicherheit in seinem erinnern, als hätte er dort ein problem ungelöst gelassen und es unterwegs nur vergessen; aber jetzt, nach dem schlaf, kehrten seine gedanken dorthin zurück. seine unruhe äusserte sich, unerklärlicherweise, in der bildhaften erinnerung an bestimmte stellen der stadt: in sich wiederholenden, immer gleichen vignetten, die ihm eine frage stellten. seine erinnerung hielt sie ihm vor augen wie einen gegenstand und fragte nach ihrer bedeutung; und er glaubte, diese bedeutung nur erfahren zu können, wenn er noch einmal zurückkehrte, um diesen ort zu sehen. wenn er sie jetzt in seiner erinnerung betrachtete, entdeckte er einzelheiten an ihnen, die ihm entgangen waren, als er an ort und stelle gewesen war. er folgte den voluten eines kapitells, zählte die pflastersteine einer strasse, meinte aber, das bild und seine berechnung seien nicht genau genug. er fürchtete, eine strasse oder ein kapitell nicht dechiffrieren zu können, wenn er auch nur die äderung eines steines vergessen hätte. zwische zwei punkten, an die er sich erinnerte, gab es immer die lücke auszufüllen, um sie zu vereinen und in ihrem sinn nachzugehen; er glaubte, dass die lösung ihn in aosta erwartete wie ein stein oder ein haus. er härmte sich, dass die bilder immer die gleichen waren, als wollten sie, indem sie sein gedächtnis fesselten, ihn daran hindern, alle anderen punkte aostas kennen zu lernen. er begeisterte sich an der farbe der steine, am rauschen des wassers, wie sie ihm die erinnerung zurückbrachte, zugleich mit der frage, was sie bedeuteten. um diese erstarrung abzuschütteln, liess er seine einbildungskraft spielen. aber es waren immer vorstellungen, die aosta zum thema hatten, und nach einer vorgetäuschten abschweifung führten sie ihn immer wieder dorthin zurück. weil die stadt etwas klösterliches hatte, sah er sie von hunderten schmächtiger theologen bevölkert, die sich des nachts in ihren häusern damit abquälten, die sensationelle widerlegung eines kirchlichen dogmas zu finden, und die, sobald sie die widerlegung gefunden hatten, wachend auf das morgengrauen warteten, um als erster auf der strasse zu sein und ihre einwände in sant’orso zu verkünden, ohne das licht in ihren zimmern zu löschen, das nun durch die fenster auf die gassen schien. draussen auf dem markplatz indessen massen sich die anhänger der verschiedenen lehrmeinungen mit scheelen blicken und warteten auf die presseberichte über den streit der theologen mit dem marderblick. mit grossem vergnügen spann er seine phantasien aus, aber es war ein vergnügen der art, wie er es auf seinen wanderungen durch die gassen von aosta empfunden hatte. um die mittagszeit kehrte er mit dem postbus ins tal zurück. und nachts – es war eine laune eines jungen, der zum ersten mal allein reist – schlug er den weg nach aosta ein. es war nicht die ausgestirnte nacht des greyssoney – tals, wo die berge den mond verbargen. hier in dem weiten tal leuchtete der mond, der klassische mond, der menschenfreund, der die häuser und die heugarben zeigte, ein mond für die friedlichen und glücklichen seelen. francesco schritt durch den strahlenden mondschein, und aosta lächelte ihm in seiner vorstellung mit einem ebenso heiteren schein entgegen, und vielleicht war es überhaupt ein und dasselbe mit dem silbernen licht der vom regen gewaschenen steine. als er im morgengrauen in der stadt ankam, war er auf dem gipfel des glücks. vor dem haus, in dem er gewohnt hatte, blieb er stehen und sah in die enge gasse. sein blick ruhte auf den häusern der frauen, die dunkel und scharf umrissen gegen die aufgehende sonne standen, und nahm jede einzelheit wahr; aber dahinter leuchtete golden und blendend der himmel. ein glänzender staub, den die sonne mit schrägen strahlen geschickt hatte, verbreitete sich auf einmal in der gasse, überflutete die häuser und blendete den jungen, der mit geschlossenen augen nun an die mädchen dachte, die dort ruhig atmend in ihren weissen betten schliefen. als es vollends tag geworden war, setzte er sich auf eine bank vor sant’orso, und die wärme schläferte ihn ein. als er nach einer halben stunde aufwachte, war er zugleich benommen und voller unruhe, und die fragende kadenz, an die er sich bereits gewöhnt hatte, glitt über die ungewöhnlichen gedanken und gelangte nach mancher täuschung und irreführung immer an denselben punkt, ohne dass er sie fassen und begreifen konnte. der gedanke an die orte, an die ihn der zufall geführt hatte, vermengte sich mit dem bewusstsein von seinem leben, gleichsam einer vollständigen erinnerung an alles, was er seit kindertagen empfunden hatte. gegen vier uhr nachmittags entfernte er sich auf der landstrasse ein wenig von aosta in richtung auf den grossen st bernhard, und er fühlte sich, wie ein rekonvaleszent, in besonderem masse zur zärtlichkeit geneigt. ab und an rief er sich, mit einem plötzlichen ruck, zur ordnung, wie um die fliehenden gedanken mit überraschendem zugriff zu packen, wie der fischer, der plötzlich den köder, an dem der fisch angebissen hat, in der hoffnung an sich zieht, der fisch habe nicht mehr die zeit gefunden, seine beute loszulassen. er indessen fand sich zwar auf den ordnungsruf ein, doch mit leeren händen. wie gerade erwachend sah er sich um, aber von den gedanken fand er keine spur mehr. ich bin müde, sagte er sich und liess sich wieder gehen. er setzte seinen weg fort, voll dankbarkeit gegenüber seinen füssen, die ihn führten; er sah, aus liebe zu seinen augen, die so mannigfachen dinge zu sehen vermochten. ängstlich schmeckte und kostete er die welt, als fürchtete er, dass er sie nicht gebührend zu geniessen wüsste; aber jede probe entlockte ihm jubel, eine stolze befriedigung ohnegleichen und ein gefühl rauschhafter entdeckerfreude. der weg stieg in stufen an, unter ihm lag aosta; bei jeder windung der strasse setzte er sich auf die niedrige mauer und liess den blick über die stadt schweifen, unentschlossen, ob er bleiben oder sich auf neue abenteuer einlassen sollte. aber ein haus, das ihm auffiel, weil es weisser als alle anderen war, oder ein gipfel auf der gegenüberliegenden seite, mit einer tanne auf halber höhe, und von ganz klaren umrissen, garantierten ihm gleichsam die ungefährlichkeit seines unternehmens. dann stieg die strasse nicht mehr in stufen an und entfernte sich, nun geradeaus fortlaufend von aosta. alle hundert meter nahm sich francesco aus angst vor dem eigenen wagemut vor, am ende der nächsten etappe umzukehren, wie das der mutter entlaufene kind, das denkt: o weh, meine beine sind zu schnell! meine mutter kann mich nicht mehr einholen. wer weiss, wo ich landen werde! er hatte den eindruck, wieder einen seiner üblichen heldentaten zu begehen; sich hals über kopf ins abenteuer zu stürzen, sich einzureden, es geschehe einer gebieterischen notwendigkeit zu folge, mit geschlossenen augen sich jedes nachdenken zu verbieten. aber an diesem punkt kam er mit einem ruck wieder zu bewusstsein. er sah ein, dass er phantasierte, aber er konnte darüber lächeln. er gebot sich, seine entscheidung nicht weiter in zweifel zu ziehen und ein wenig ausserhalb von aosta abend zu essen. er bildetet sich ein, dass dies seine schwierigkeiten habe, dass es dabei ein hindernis gab, das zu überwinden er seinen ganzen willen brauchte. so spiegelte ihm seine phantasie komplikationen vor und darauf für jede einzelne den blinden impetus, mit dem er sie dann überwand. er sah sich, nun endlich wach geworden, um, und ihm blieb nur sein fester entschluss, ins nächste wirtshaus zum abendessen zu gehen. aber die sonne war gerade erst untergegangen. francescos blick fiel auf den wildbach neben der strasse, am grund des abhangs, wo zwischen friedlichen, weiss schimmernden kiesstränden das klare tiefblaue wasser floss, das die sonne nicht mehr erreichte. er bekam lust, hinunterzuklettern und sich dort auszuruhen. unten, auf dem kiesstrand, streckte er sich bäuchlings aus und stützte den kopf mit dem kinn auf die geschlossenen fäuste. mit dem blick den lauf des wildbachs zurückverfolgend, kam francesco, ohne auf hindernisse zu stossen, bis zum sankt bernhard und den ersten gletschern. der sonnenuntergang säumte sie mit einer gleich bleibenden helligkeit, die unbeweglich schien und, wenn man den blick nicht abwandte, eher zunahm als erlosch. vom gletscher aus senkten sich die schatten immer tiefer zur erde, aber sie brachten keinen frost mit, sondern hatten sogar etwas von einem mütterlichen appell. wenn oben kälte herrschte, dann war sie gewiss von der art, die die glieder taub macht und bald als hitze empfunden wird. er stieg wieder zur strasse hinauf, die flach zwischen obstgärten dahinführte. am ende eines dorfes, ein wenig abseits von der eigentlichen ortschaft, fand er ein wirtshaus, zu dem man über einen weiten freien platz gelangte. der speisesaal war gesteckt voll von gästen, die gerade mit dem essen fertig waren. eine magd, mit hagerem, dabei rundem, sommersprossigem gesicht, das haar auf dem kopf zu einem endlosen zopf geflochten, mit spitzen schultern und steifen bewegungen – sie erinnerte ihn an die frauen, die auf den darstellungen flämischer meister von der geburt christi die wäsche oder die speisen tragen – kam ihm entgegen und fragte ihn, wie er sein huhn haben wolle: nach jägerart, gekocht oder gebraten. er sah sie überrascht an, aber sie erklärte ihm lächelnd, dass die spezialität des hauses geflügel sei und dass die gäste nur wegen der hühner kämen. francesco glaubte, dass der spass dieser unvermittelten frage hier wohl so obligatorisch wie die begründung war, und fühlte sich amüsiert. jetzt erinnerte er sich auch, dass er, als er über die tenne kam, flügelschlagen und gackern gehört hatte. hier erklärte ihm die frau weiter, würden täglich dutzende hühner verzehrt. niemand sonst verstünde so, sie zu mästen und so, sie zuzubereiten. sie führte ihn in den speisesall, wo die gäste dicht nebeneinander vor ihren tellern voller abgenagter knochen sassen. ein schönes mädchen, hochblond, trug gerade für eine verspätet eingetroffene tischgesellschaft das essen auf: ein glänzender kapaun und ein halbes hähnchen am spiess. in einer ecke spielten zwei fremde, ein mann und eine frau – die elegantesten gäste im saal – mit dem gabelbein genannten hühnerknochen, indem jeder auf seiner seite mit aller vorsicht und taktischer geschicklichkeit zog, damit ihm der knöchel in der mitte blieb.
francesco dankte aufs höflichste und hatte nicht den mut, das brathuhn nicht zu bestellen, obwohl ihn die ausgabe erschreckte. allein, als er bemerkte, dass die frau sich anschickte, ihn zwischen zwei gäste zu zwängen, bat er darum, in einem anderen raum allein essen zu können. die magd entfernte sich für einen augenblick, um ihn dann in den hinter der theke gelegenen raum zu führen, wo die wirtin, eine witwe, mit ihren kindern sass. wie man es bei bäuerinnen des val d’aosta, wo sich die nähe frankreichs schon bemerkbar macht, oft trifft, sah sie wie eine in den stürmen des lebens gereifte, vornehme ältere dame aus. reserviert, ohne hochmütig zu sein, haben die frauen von aosta das von natur, was bei uns, ungeachtet der erziehung, niemals zur gewohnheit wird: die schickliche art, sich auszudrücken, keine überraschung zu zeigen, keine ausbrüche, bei jeder gesprächswendung, auch einer unvorhergesehenen, gelassen zu bleiben; das gastliche lächeln, das bei den jungen frauen angenehme liebesbeziehungen erhoffen lässt. francesco näherte sich der wirtin, ohne zu sehen, dass sie gerade einem säugling die brust gab; und da er im halbschatten das bündel nicht erkennen konnte, beugte er sich herab. sie hob den blick und senkte ihn sogleich wieder; ruhig, mit einer gebärde voller würde bedeckte sie ihre brust.«monsieur veut donc manger seul?» sie erklärte, dass das wirsthaus klein sei und weiter kein zimmer besässe – es sei denn, er wolle im hühnerstall essen, wo die hühner gemästet würden, fügte sie scherzend hinzu. aber francesco liess es sich gesagt sein. man möge ihm nur einen tisch zwischen die hühnerkäfige stellen, wenn es sonst keine möglichkeit gab allein zu essen. die frau erhob sich und ordnete an, dass man einen tisch – sie wagte nicht zu sagen: in den hühnerstall, und so stockte sie, um alsdann fortzufahren – dort hinbringe, où monsieur vous dira. sie sah ihn an, glücklich, ihre anordnungen zu geben, mit dem nachsichtigen lächeln einer mutter, die viele kinder gehabt hat. sie schickte ihm ihre älteste tochter, das blonde mädchen, das kurz zuvor die verspäteten gäste bedient hatte. nachdem sie ihm das brot und das brathuhn gebracht hatte, ging sie wieder, nicht ohne sich die ohren zuzuhalten, um in koketter übertreibung auszudrücken, wie unerträglich ihr der lärm der eingesperrten hühner war. an der wand war eine reihe von käfigen angebracht, und das flügelschlagen war sozusagen das ständige untergrundgeräusch für das kapriziösere der das korn pickenden schnäbel. anfangs nahm francesco, aus alter grossstädtischer gewohnheit, dem mädchen aus dem volk gegenüber einen ton ein wenig ironischen wohlwollens und überlegener selbstgefälligkeit an; aber er liess ihn fallen, als er bemerkte, dass ihm das mädchen mit einer stärkeren waffe begegnete: mit jener natürlichkeit im betragen, die den hochmut das anderen nicht einmal zu argwöhnen scheint.
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