auguste rodin
vergeistigung und phantasie
(aus: die kunst)

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ich nenne alles nützlich, was uns in einen glücklichen zustand versetzt. nun gibt es auf der welt nichts, was uns glücklicher macht, als vergeistigung und phantasie. das vergisst man heute gar zu sehr. der mensch, der, vor aller not in sicherheit, wie ein weiser zahllose herrlichkeiten geniesst, die jeden augenblick vor seinen augen und seinem geiste erscheinen, wandelt auf erden wie ein gott. er berauscht sich an dem wunderbaren anblick schöner, kraft- und saftstrotzender geschöpfe, die vor seinen blicken ihren ungestümen tatendurst entfalten; beim anblick stolzer vertreter des menschengeschlechts und des tierreichs, junger muskulaturen in bewegung, wundervoller, lebendiger, geschmeidiger, schlanker und feinnerviger organismen; er führt seine freude in die täler und auf die hügel, wo der frühling mit reichstem blätter- und blütenschmuck, mit den süssesten wohlgerüchen, dem summen emsiger bienen, dem rauschen breiter flügelschläge und mit klängen von liebesliedern die verschwenderischsten feste feiert; er ergötzt sich an dem silbernen gekräusel, das wie ein lächeln über die wasserfläche der flüsse huscht; er gerät in entzücken, wenn er beobachten kann, wie apollo, der strahlende gott, sich bemüht, die wolken zu zerteilen, die die erde in lenz zwischen sich und ihm aufrichtet, einer schamhaften geliebten gleich, die zögert, sich zu enthüllen.

welcher sterbliche ist beglückter als er? und da die kunst uns solche freuden würdigen und geniessen lehrt, wer will da noch leugnen, dass sie unendlich nützlich ist?