Die Sehnsucht
Pour Céline et Laïla

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Mitteilung der Herausgeber
Dieses Tagebuch wurde uns von einem jungen anonymen Schweizer Auswanderer zugesandt. Wir veröffentlichen den Text ohne Änderungen vorgenommen zu haben.
Aus den Aufzeichnungen entnehmen wir, dass er Ende Mai 2003 mit einem Containerschiff den Atlantik von Liverpool, England nach Chester, Pennsylvania überquert hat. Über seinen Verbleib ist uns nichts weiter bekannt.

 

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Tagebuch eines AusWanderers

 

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Freitag abend

Vor ein paar Stunden bin ich an Bord gegangen. Die M.V. Independent Trader liegt im Container-Terminal von Liverpool. Sie wird mich über den Atlantik tragen. Vor dem Fenster meiner Kabine stehen philippinische Matrosen an Deck. Über ihren Köpfen surrt ein Kran. Ein Container wird abgesetzt. Meine Kabine. Mein Zuhause für die kommenden zehn Tage.

Am Abend bin ich durch Liverpools Vorstädte gefahren. Bootle Litherland Seaforth. Zwischen grünen Gärtchen und schmucken Einfamilienhäusern immer wieder die Monotonie aneinander gereihter Wohnhäuser, roter Backstein grauer Asphalt. Allenthalben der Hauptstrasse entlang heruntergekommene Häuser mit zerbrochenen Scheiben oder zugemauerten Fensteröffnungen. An diesem Freitagabend nach Ladenschluss waren die meisten Geschäfte verrammelt und schienen sich auf eine heisse Nacht gefasst zu machen.

In meiner Vorstellung zog sich dieses Bild nahtlos in den Hafen weiter. Ich erwartete zerfallende Lagerhäuser aus derselben gebrannten Erde. In meinem Kopf entfaltete sich das Bild einer zerfallenden Blüte. Ich erwartete einen schmutziggrauen Hafen, den nur noch der Staub der Industriestadt und die Erinnerung an vergangenen Stolz zusammenhält.

Die Realität sah anders aus. Nichts in diesem Hafen schien mehr Winter erlebt zu haben als ich. Und nichts machte den Anschein als sei es der Vergessenheit anheim gefallen. Nicht der Verfall regiert den Hafen, sondern die Abnützung und was abgenützt ist -- meist schon nach wenigen Jahren -- wird schnell wieder ersetzt. Durch das Tor fuhr ein Sattelschlepper nach dem anderen, und vertraute dem Hafen einen Container an. Keine brummenden, rauchenden LKWs, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung habe, sondern moderne Fahrzeuge. Die geschwungene Führerkabine meist in elegantem Weiss gehalten, die Scheiben getönt, eine Aura von geschäftiger Wichtigkeit und Unnahbarkeit erweckend. Ich war zu Fuss unterwegs in einer Asphaltwüste. Fehl am Platz. Ich musste mich vor einem heranbrausenden LKW auf die andere Strassenseite retten.

Die Container sind auf einer ewigen Reise. Wo sie wohl herkommen? Was sie wohl enthalten? Sind sie leer? Sind sie voll? Wo sie wohl hingehen? Hinter einem Drahtzaun nehmen sich riesige Spinnen der metallenen Beute an, heben sie von den Lastwagen, stapeln sie in lange Reihen, immer drei aufeinander. Bizarre Gefährte, langbeinig schlank auf acht Rädern. Jede ihrer Bewegungen künden sie mit einem schrillen Piepsen an. Leise surren ihre Elektromotoren.

Die Abendsonne tauchte den Hafen in ein goldenes Licht. Der Anblick des schwarzen Asphalts und der Container erhielt eine heroische Ausstrahlung. Hier werden wichtige Geschäfte abgewickelt. Dies ist eine der Pumpen, die unsere Welt in Gang hält, sie mit Gütern, dem Lebenselixir unserer Kultur versorgt. Ich stand in dieser Abendsonne und wartete auf den Bus, der mich zu meinem Schiff bringen sollte. Meinen Rucksack hatte ich an einen Laternenpfahl gelehnt. Rund um diesen Pfahl war ein kleines Feld von Zinnkraut aus dem Asphalt geschossen, als wäre es eine Scholle.

Fussgängern ist der Durchgang durch den Hafen strengstens verboten. Ich kann gut verstehen weshalb. Das Tempo der Fahrzeuge ist nicht auf Fussgänger ausgerichtet. Rücksicht auf sie nehmen zu müssen, würde den reibungslosen Fluss der Güter behindern. Ich wartete über eine Stunde auf den Bus, bis ein kleingewachsener, schielender, etwas älterer Hafenarbeiter, der in seiner neongelben Ölhaut zu verschwinden schien, auf mich zukam. Den Helm gegen den steifen Wind tief in die Stirn gezogen. Er fragte mich mit starkem Akzent, ob ich auf den Bus warte. Auf meine Antwort hin, überlegte er kurz, schaute über den Platz wo die Lastwagen abgefertigt wurden. Am anderen Ende verschwand gerade der dunkelrote, mit grellen Farben und Warnblinkern markierte Bus, hinter einem Container. Er meinte, er werde es dort drüben ausrichten, dass sie auch noch hier vorbeifahren sollten, um mich zu holen. Es bedurfte eines Menschen um mich in die geschlossene Gesellschaft aufzunehmen.

Am Pier, beim Schiff, standen riesige Kräne, die mich an Tinguelys bizarre Skulpturen erinnerten. Sie schienen für ihre eindrückliche Höhe viel zu leicht gebaut. Überall drehten riesige Räder, blinkten Lampen und heulten Sirenen. Stück für Stück werden Hunderte von Containern hochgehoben und an Deck des Schiffs abgesetzt. Auch jetzt noch, als ich in meinem Zimmer sitze. Ich gehe an Deck. Die Luft draussen ist vom Gezwitscher und Geheule der Kräne erfüllt, welches sich mit dem Piepsen der Spinnenfahrzeuge zu einem vielstimmigen mechanisierten Konzert mischt. Von Deck aus beobachte ich, wie unser Schiff beladen wird. Die Sonne ist untergegangen, die Flutlichter haben sie ersetzt und tauchen die gesamte Szenerie in ein kaltes oranges Licht. Ich meine an einer nächtlichen Autobahn zu stehen. Die überall aufblitzenden Warnlichter rufen ein Gefühl von Hektik hervor, obwohl eigentlich keine Hektik herrscht. Trotz des Tempos der Maschinen wirkt das Laden der Güter meditativ. Jeder Handgriff jede Bewegung der Maschinen sitzt offensichtlich, es gibt kein Geschrei keinen Schweiss keinen Staub keine Fehler. Nur das schrille Rufen der Maschinen, das metallene Surren der Stahlseile und das hohle Klappern der Container. Ein kühler Wind weht.

Irgendwo verloren innerhalb dieser mechanischen Saurier sind die Menschen. Kaum auszumachen, denn die wenigen, die hier Arbeit finden, sitzen versteckt hoch über dem Boden in den Führerständen der riesigen Maschinen oder flitzen mit ihren Fahrzeugen durch die Containerschluchten. Die Warnlichter deuten auf etwas Lebendiges hin, warnen den Führer der Maschine, dass da etwas Zerbrechliches ist, warnen den Arbeiter, dass etwas naht, dem er nicht gewachsen ist. Alles Männer. Und doch war es ein Mensch, der dafür gesorgt hat, dass ich zum Schiff gekommen bin.

Von der Seeseite des Schiffs aus kann ich das Hafenbecken übersehen. An der Mole stehen Windräder und drehen sich im ewigen Wind, der vom Meer aufs Land weht. Es ist Nacht, ohne wirklich Nacht zu sein.

Ich gehe zurück in meine Kabine im dritten Stock. Direkt vor meinem Fenster werden die Container aufgestapelt. Das wird meine Aussicht für die nächsten zehn Tage sein. Die Farbe der Container erinnert mich an den Backstein der Vorstädte. Ich lese die Aufschrift, die einen Meter vor meinem Fenster prangt: Max Gross 30'480kg, Tare 3'800kg, Net 26'680kg, Cu. Cap 67.6Cu.m und dasselbe in Pfund und Fuss. Schon alleine die leeren Container wiegen zusammen über 2'500t, sind sie alle voll, dann sind es 20'000t. Wenn dieses Gewicht mit reiner Muskelkraft auf das Schiff gehoben werden müsste, wie viele Rinder müssten dann geschlachtet werden, um die Arbeiter zu ernähren? In dieser Nacht noch stechen wir in See.

 

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Samstag Morgen

Drei Uhr morgens. Ich bin in meinen Kleidern eingeschlafen. Aus meinem Fenster sehe ich einen schmalen Streifen hellgrauen Himmels, ein Stück von einem Kran und einen Scheinwerfer. Wir sind also noch im Hafen. Neugierde zieht mich nach draussen. Ich schaue zu, wie die Filipinos und ein paar Dockers das Schiff klar machen, die Brücke einziehen, die Taue lösen. Die Kräne, die gestern Abend unser Schiff beladen haben, ruhen sich aus für die nächsten Container, die schon warten. Aufgestapelt in langen Reihen, immer drei aufeinander. Dafür ist jetzt Leben beim benachbarten Schiff. Unsere Taue fallen ins Wasser und werden mit einer Motorrolle aufs Schiff gezogen. Wir legen ab. Schon wird der nächste, riesige Frachter herangeführt, der sogleich den frei werdenden Platz einnimmt. Zwei Schleppschiffe, eines am Bug, das andere am Heck, leiten uns aus dem Hafen ins Meer hinaus. Unser Schiff schrammt in der engen Ausfahrt leicht der Hafenmauer entlang. Ein letzter flüchtiger Kuss zum Abschied für den Hafen von Liverpool.

 

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Nachmittags

Der Hafen liegt bereits weit zurück, Irland ist von Steuerbord aus noch schemenhaft am dunstigen Horizont erkennbar. Vor uns liegt nur noch der Atlantik. Ich bin seit heute morgen ein paar Mal an Deck gewesen. Beim ersten Mal war ich überrascht über die Geschwindigkeit, mit der wir uns fortbewegen. Ich hatte mir das langsamer vorgestellt. Wir sind zudem nicht allein in der Weite des Meeres. Jedes Mal war mindestens ein Schiff in Sichtweite. Ob das an unserer Nähe zum Land liegt? Die nächsten Tage werden das zeigen. Sie werden auch zeigen, wie stark wir noch immer mit dem Land verbunden sind. Immerhin gibt es noch viele Dinge, die die Erinnerung wach halten. Der feste Grund fehlt zwar, die Kommunikation mit anderen Menschen, die Möglichkeit, den vorgegebenen Raum zu verlassen. Ein Inseldasein werden wir erleben, die Bewohner und die einzige Bewohnerin dieser Insel. Dennoch erinnern viele Dinge an das Land, das wir zurückgelassen haben. Die Ladung, für uns auf See wohl grösstenteils wertlos, aber irgendwo wartet jemand darauf. Ein Geruch nach Meer Öl Abgasen, der schon den Hafen geprägt hat. Und bei einem meiner Spaziergänge lachte mir ein Filipino zu und zeigte auf etwas. Als ich hinschaute, sass dort eine braune Taube, verloren, und mit ängstlichen Augen um sich blickend. Eine Botschafterin des Landes, ebenso wie das Essen. Heute Mittag gab es Kohlwickel gefüllt mit Rindfleisch und Knoblauch, dazu Kartoffelstock und eine Tomatensauce. Erinnerungen an den Boden an Pflanzen an Kühe an die Erde.

 

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Unsere stählerne Insel ist 151m lang. Meine Mitpassagiere sind schon seit Antwerpen, dem vorletzten Hafen auf dem Schiff. Tom, der Amerikaner, Herr und Frau Schmied, Schweizer. Sie nahmen mich mit auf ihren Nachmittagsspaziergang. Einmal zum Bug und zurück. Wir liefen wie in einem Laubengang unter den Containern durch. Nach und nach wurde es stiller. Das ewige Dröhnen der Schiffsmotoren verebbte mit der Zeit. Nur noch das Rauschen der Bugwelle war zu hören. Eine Meeresbrandung. Ein Geräusch, wie es schon seit Millionen von Jahren in unseren Ohren klingt. Ein Geräusch, das es schon lange vor uns gegeben hat.

Vorne am Bug, die riesigen Ankerketten das offene Meer der Fahrtwind. Ich fühlte mich leicht, losgelöst von der Schwere des Kontinents. Nur noch Wasser Wind und ich. Wir machten unsere Runde, zurück ans Heck wo der weisse Turm auf dem blauen Rumpf unserer Insel trohnt. Fünfstöckig. Und darüber die Brücke, gekrönt von Antennen und dem immerfort drehenden Radar. Im ersten Stock die Messen, eine für Offiziere und Passagiere, eine für die Filipinos. Dann Kabinen, für die Besatzung, für die Passagiere, ab und zu ein Büro, ein Aufenthaltsraum. Am vierten Deck das Rettungsboot. Es wartet darauf die Menschen an Bord aufzunehmen und sich dann von hoch oben ins Wasser zu stürzen. Unter dem Rettungsboot stand die Türe zum Maschinenraum offen. Ein warmer Wind, der den Geruch von Schiffsdiesel und Abgasen in sich trug, dröhnte durch die Öffnung. Und auf dem ersten Deck die Taue, armdick, bereit unsere Insel ans Land zu binden.

 

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Geschlafen. Geweckt von der Notfallübung. Schwimmweste an, Helm auf und besammeln beim Rettungsboot. Zurück in meiner Kabine bin ich erschöpft. Die letzten Tage vor meiner Abreise waren anstrengend. Ich betrachte mich im Spiegel. Eine Unruhe erfasst mich. Ich gefalle mir nicht. Die dunkeln Stoppeln auf meinem Kinn geben der fahlen Haut einen grünlichen Schimmer. Meine Nase scheint mir unglaublich prominent zwischen den eingefallenen Augen, die matt sind und gerötet. Meine schwarzen Haare stehen wirr vom Kopf ab. Sie fühlen sich dünn an, unzufrieden. Ich atme nicht. Eine bleierne Schwere liegt auf meiner Brust. Ich betrachte die schwarzen Ringe unter meinen Augen. Spüre meine Müdigkeit. Beim Schlafen habe ich mit den Zähnen geknirscht. Ich spüre noch immer den Druck in meinem Kiefergelenk. Mein Nacken schmerzt. Meine Seele ist noch nicht bei mir, vergessen im Aufruhr, in der Hatz der vergangenen Tage. Und immer wieder diese Wunde. In meinem Herz. Schwärend. Ich bin jung, gerade erst zweimal 13 Jahre alt geworden. Meine Zukunft ist offen wie der Sternenhimmel. Und bodenlos wie der Fall aus einer Raumkapsel. Ich habe keine Arbeit, ich habe keine Kinder, ich habe eine Wunde im Herzen, habe ich denn überhaupt eine Zukunft? Arbeit könnte ich schon finden, aber würde ich glücklich werden? Kinder möchte ich durchaus, aber gibt es eine Frau, mit der ich finden kann, wonach ich suche? Und all diese Enttäuschungen, sind sie nicht Zeichen genug, dass glücklich zu sein nur eine tieftraurige Illusion ist? Als dann diese Wunde aus längst vergangenen Zeiten wieder aufbrach, beschloss ich zu gehen. In aller Eile. Die Flucht anzutreten, den Schritt heraus zu machen aus dem Alltag, der uns Sicherheit vorgaukelt und uns doch nur Schluck für Schluck, langsam und unmerklich das Blut aus den Adern saugt. Und deshalb will ich dort hin, wo viele Leute nicht mehr hin wollen, will erfahren, ob es noch Hoffnung gibt, dort, wo sie längst schon verloren geglaubt wird, will mich vergessen im Angesicht all dessen, was dort ist, wo ich nicht bin. Und damit der Schmerz auch nicht.

Ich bin aufgebrochen zu einer Reise in die USA. Eine Reise, angetrieben von den Vorurteilen, die diesem Land entgegen gebracht werden. Das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Getroffen von mörderischen Anschlägen hat es zurückgeschlagen, hat die ganze Kraft seiner hochtechnisierten Militärmaschine ausgespielt, um sich selber von der Angst, verwundbar zu sein, zu befreien. Geweckt hat es den Unmut der Menschen, in arabischen Ländern, in Europa auch, Vorurteile, Ablehnung. Aber hinter dieser Einseitigkeit mit der wir dieses Land betrachten und mit der dieses Land uns zu betrachten scheint, hinter all dem steckt mehr, davon bin ich überzeugt. Mein Ziel ist, dieses Mehr zu suchen und meine Zukunft, mein Leben.

 

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Abends

Wieder geschlafen. Das Abendessen habe ich verpasst. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, die Schiffszeit wird um eine Stunde zurückgestellt. Noch immer ist Irland am Horizont auszumachen. Im Gang höre ich die Kabinentüre des Ehepaars Schmied, seit kurzem pensioniert, gutbürgerlich, Schweizer, wie ich. Bei unserem ersten Zusammentreffen heute Morgen hatten wir schon eine Auseinandersetzung über den Sinn von Kernkraftwerken. Vor einer Woche fand die Abstimmung über zwei Initiativen statt, die den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie anstreben. Beide Vorlagen wurden abgeschmettert. Wir sind nicht der gleichen Meinung. Sie sind besorgt über die Sicherstellung der Versorgung mit Energie für die Schweiz. Sie meinen, ich sei ja noch jung, sie könnten meine Angst vor den Folgen dieser Technologie verstehen. Ich hätte ja noch keine Versorgungskrise erlebt. Ich solle dann an sie denken, wenn ich selber 65 sei. Ich müsse auch akzeptieren, dass es andere Meinungen gäbe. Es gehe halt nicht anders in der Schweiz. Es gäbe keine anderen Lösungen für die Versorgung mit Elektrizität als die Kernkraft. Es gäbe halt keine Alternativen. Bush finden sie schrecklich.

 

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Sonntag

Der zweite Tag auf dem offenen Meer. Vom Deck aus ist kein anderes Schiff zu erkennen, weit und breit. Nur ein Mövenpaar begleitet uns. Unser Schiff schaukelt leicht auf den tiefblauen Wellen. Ich stehe am Heck, gleich über der Schraube. Am östlichen Horizont widerspiegelt das Meer gleissend die aufgehende Sonne. Unter mir schäumt das Wasser und Tiefblau mischt sich mit Weiss zu Hellblau und Türkis. Es ist angenehm warm. Wir sind isoliert, ein kleines Grüppchen, 26 Menschen, irgendwo auf dieser Erdkugel. Wir sind allein, abgelöst von unseren Mitmenschen. Wie Antoine Roquentin in seinem Hotelzimmer in Bouville. Würden wir schreien, es würde uns niemand antworten. Ich stelle mir vor, was passieren würde, wenn ich in dieses türkis-blau schäumende Wasser unter mir fiele. Ich bin nicht hoch oben, ein paar Meter vielleicht, wäre es möglich, ich würde gerne springen, das Meer lockt mich. Das Schiff würde weitereilen. Bis man mein Fehlen bemerken würde, würden Stunden vergehen. Beim Mittagessen vielleicht? Oder doch erst beim Abendessen? Und wie soll man einen Menschen finden, inmitten des weiten Ozeans, einen Kopf, der aus dem Wasser ragt, einen Arm, der winkt?

Und doch sind wir nicht vergessen. Viele Menschen warten auf unsere Fracht, unsere Familien denken an uns, unsere Freunde vielleicht. Wir sind eingebunden in diese Welt. Unsere Insel kann mit der Aussenwelt kommunizieren, über Funk Satellitentelefon Lichtzeichen. Wann ist denn ein Mensch schon ganz allein? Überhaupt, in unserer Kultur? Wer schafft es denn schon zu überleben ohne Mitmenschen? Sicher nicht, wer in den Supermarkt einkaufen geht. Wer ein Auto fährt, die Bahn benützt. Jede meiner Handlungen verbindet mich mit anderen Menschen. Auch wenn ich sie nicht kenne. Durch wie viele Hände ist das Ei gegangen, das ich zum Frühstück gegessen habe? Welche Gesichter stehen hinter dem Speck, welches Schwein? Welche Bauernfamilie verdient ihr Geld damit? Wer auch immer auf die Ladung des Containers CAXU 435881-9 wartet. Er oder sie wird mich nicht kennen, wird nicht wissen, dass ich zehn Tage lang nur einen Meter von dieser Ware entfernt gelebt gesehnt geliebt geatmet geschrieben habe.

 

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Bei einem Besuch auf der Brücke frage ich den polnischen Kapitän ob er wisse, was wir geladen haben. "Was deklariert ist schon," gibt er mir zur Antwort, "was tatsächlich drin ist, Inshallah." Jedenfalls, fügt er bei, liesse sich hier auf dem Schiff wohl alles finden, was wir in einem Laden kaufen könnten. Wein Nahrungsmittel. Ausserdem Autos Maschinenteile Chemikalien. Der Handel über die Weltmeere nimmt zu. Der Kapitän erzählt mir, seine Reederei habe für die kommenden Jahre 51 neue Schiffe bestellt. Unser Schiff kann etwa 1000 Container laden. Vor zwölf Jahren war das ein stattliches Schiff. Heute werden Schiffe für 15'000 Container geplant. Gebaut wird in Deutschland Polen Thailand Indonesien.

 

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Frau Schmied war beim Frühstück ganz empört, als ich begann, Fragen zu stellen. Als ob sie etwas zu verbergen hätte. Man frägt nicht in ihrer Welt, man errät. Man lässt den anderen sein Netz weben und sei es aus Lügen gemacht. Man macht sich seine Gedanken, auch wenn man völlig falsch liegt. Aber keine Fragen.

Ein merkwürdiges Paar. Frau Schmied vertrocknet, etwas verklemmt, angespannt. Ein Mensch, der nicht zu atmen scheint. Aber wie wenn sie diese Beklemmung überwinden müsste, benimmt sie sich ganz eigenartig vulgär. Immer wieder untermalt sie ihre Erzählungen mit absonderlichen flärzenden Geräuschen, kann sich während dem Essen darüber auslassen, wie ekelhaft irgendein Teil des Fischs aussieht, den sie gerade isst. Er mit einer gesunden Hautfarbe, gut im Saft, schmale Lippen, die ihre Anspannung nicht verbergen können. Zwingt sich immer wieder über die Vulgarität seiner Frau zu lachen, wie er es wohl schon seit Jahrzehnten macht. Sie scheinen ein Herz und eine Seele zu sein, ein herziges Paar, wenn es nur nicht so ostentativ wäre, dass sie ein herziges Paar sind. Dass sie der Welt beweisen wollen, dass es das Gute noch gibt. Und dass sie wissen, was Gut ist.

 

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Der Gedanke an die Güter in den Containern lässt mich nicht los. Wenn ich in Amerika etwas davon kaufe, verbindet mich auch das wieder mit Menschen. Ich beeinflusse den Lauf der Dinge. Wenn ich etwas kaufe, fördere ich die Idee, die hinter diesem Produkt steht. Wenn ich etwas nicht kaufe, lehne ich sie dann ab? Oder bleibe ich einfach neutral? Was will ich denn fördern? Was will ich ablehnen? Kinderarbeit? Ist das gut oder schlecht? Bioprodukte? Exotische Biofrüchte aus Afrika Asien Südamerika? Biowein aus Frankreich in Kalifornien verkaufen? Bioprodukte bei einem Biogrossverteiler kaufen, der sie von einem Biogrossbauern bezieht? Welche Ideologie, welche Logik steckt hinter all dem? Welche Logik steckt hinter dem Welthandel? Dieses Schiff ist Teil des Welthandels, ein Glied in der Kette. Ebenso wie die Häfen, die Lastwagen. Wir tragen Güter auf diesem Schiff über den Atlantik. Der Treibstoff ist zu billig, Distanzen kosten nichts. Birnen aus Neuseeland sind in einem Schweizer Supermarkt 30 Rappen billiger zu haben, als Birnen aus der Schweiz. Aber was passiert, wenn wir den Treibstoffpreis erhöhen? Wird dann alles besser?

Ich bin nicht geflogen, wie jeder normale Mensch auch. Ideologie? Der Drang anders zu sein? Vielleicht all das und wahrscheinlich noch viel mehr. Flugzeuge sind eine Schweinerei, das stimmt. Verpesten die Luft, machen viel Lärm und zahlen erst noch keine Steuern. Und doch braucht es Flugzeuge manchmal. Sind sie aus unserer Realität nicht wegzudenken. Aber diese Realität ist nicht so wie ich sie will. Meine Realität ist nicht so wie ich sie will. Ich muss flüchten vor meiner Realität, etwas anderes suchen. Amerika. Ich brauche kein Flugzeug. Ich kann das anders als alle anderen und ich verliere nichts dabei. Werde ich das in einer Woche noch immer so romantisch sehen?

 

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Abends

Ich stehe wieder am Bug. Hier vorne gleitet das Schiff wie von Zauberhand getrieben über die Wellen. Kein Motorengeräusch ist zu hören. Kein Brummen und Zittern wie am Heck des Schiffs, wo die Kabinen sind. Gischt spritzt durch die Öffnungen wo die riesigen Anker an Ketten hängen, der Wind bläst mir ins Gesicht. Kein Schiff ist zu sehen, weit und breit. Nur wir. Ich suche Schutz vor dem Wind. Wo er nicht bläst, ist es angenehm warm, die Sonne scheint. Sie scheint gerade so stark, dass sie wärmt ohne zu verbrennen.

Die roten Haare von Livia haben mich verbrannt. Sie haben ein Feuer entfacht, dem ich nicht gewachsen war. Nun fürchte ich mich vor ihr genauso, wie ich mich von ihr angezogen fühle. Ich musste flüchten vor diesem Feuer. Zu stark waren die Schmerzen. In der letzten Zeit vor meiner Abreise habe ich den Wind gespürt, der mich rief. Jede Böe, die von der Bise übers Land gefegt wurde, weckte die Sehnsucht in mir. Jetzt reite ich auf dem Wind, lasse mich davon tragen, ohne mich darauf festzulegen, was sein wird. Auf der Suche nach der Leichtigkeit des Wassers. Und nach festem Grund, der Erde unter meinen Füssen.

 

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Montag

Es ist ein Uhr morgens. Ich kann nicht schlafen. Die Motoren stampfen, unser Schiff schaukelt auf den Wellen. Wir sind auf dem Weg Richtung Westen.

Was wäre, wenn der Transport um ein Vielfaches teurer wäre als heute? Reisen wäre teurer, Handeln wäre teurer. Dann müsste ich mich viel mehr um das kümmern, was in meiner Nähe liegt. Ich müsste die Wege verkürzen, zur Arbeit, für meine Lebensmittel, für die Energie, die ich benötige. Kein Pendeln zwischen Nordamerika und Europa. Keine Bohnen im Dezember aus Kenia. Kein Erdöl aus Saudi-Arabien. Dafür würde ich im gleichen Haus wohnen und arbeiten, Bohnen im Sommer aus dem eigenen Garten essen und Holz zum Kochen und Heizen aus dem Wald nebenan holen. Ich würde einmal in meinem Leben eine grosse Reise machen, vielleicht zweimal, vielleicht mein Leben zu einer grossen Reise machen. Gehandelt würde mit dem, was unentbehrlich und unersetzlich ist. Mit seltenen Gütern und seltenen Begabungen.

Energie wäre wohl ganz allgemein teurer. Mehr menschliche, mehr manuelle Arbeit müsste geleistet werden. Eine Chance für die Lastwagenfahrerinnen, Seeleute und Hafenarbeiter, deren Arbeitsplätze gefährdet sind? Eine neue Ära der Sklaverei? Das darf nicht sein. Die Logik des Wirtschaftens dürfte nicht stehen bleiben, während sich alles andere verändert. Eine Ökonomie des Glücklichseins, anstatt eine Ökonomie des Profits, des Wachstums. Das ist nicht gleichbedeutend mit einer untergehenden Ökonomie. Es ist eine, in der Individualität, Selbstfindung und Selbstverwirklichung ebenso wie ökonomische Selbsterhaltung auf die Goldwaage gelegt werden.

Kleinere Strukturen Bedeutung der Nähe Dezentralisierung. In einer solchen Vorstellung hat es keinen Platz für zentralistische Technologien wie Kernkraftwerke Gentechnologie kalte Fusion. Sie verlangen nach riesigen Strukturen, über die ich als kleiner einzelner Mensch keine Kontrolle mehr habe. Und ich will doch für mein Leben Verantwortung übernehmen können. Ich will, dass meine Mitmenschen um mich herum auch Verantwortung übernehmen können. Bäuerinnen Forscher Handwerkerinnen Büroangestellte Hafenarbeiter Punks Seeleute. Macht in die Hände des Einzelnen.

Wo würden wir heute stehen, wenn all das Geld, das in die Entwicklung und den Bau von Kernkraftwerken geflossen ist, für die Steigerung der Effizienz unseres Energiekonsums verwendet worden wäre? Und für die Entwicklung dezentraler Versorgungstechnologien? Passivhäuser Kühlschränke ohne Stromversorgung Windräder Windmühlen Sonnenkollektoren Holzöfen Gezeitenkraftwerke Wellenkraftwerke Kleinstwasserkraftwerke. Und das Geld für die kalte Fusion oben drauf. Wo würden wir stehen, wenn statt Gentechnologie Permakultur erforscht würde? Mit dem gleichen Budget. Wenn die Bauern geschult würden, die Kreisläufe der Natur zu nutzen. Die Sonnenhänge, die Schattenhänge, Steine als Wärmespeicher. Eigenhändig den lokalen Gegebenheiten angepasstes Saatgut zu züchten. Ich denke nicht, dass wir im Paradies wären. Es gäbe immer noch unzählige Probleme zu lösen. Aber wir würden an einem anderen Ort stehen und der wäre nicht unbedingt schlechter als wo wir heute stehen. Schliesslich lösen KKWs Gentech und Fusionsreaktoren auch nicht alle Probleme und schaffen viele neue.

Macht. Wer diese Technologien besitzt, ist mächtig. Ebenso wer die Erdölvorräte kontrolliert. Die kalte Fusion verspricht die Lösung aller unserer Energieversorgungssorgen. Aber wird sich Sierra Leone einen Fusionsreaktor leisten können? Golden Rice verspricht den Mangel an Vitamin A aus der Welt schaffen zu können. Aber werden sich die Bauern in Indien das Saatgut leisten können? Und würden sie nicht besser ein paar Karotten anbauen, die noch mehr Vitamin A und noch vieles mehr enthalten billiger sind schon existieren und erst noch besser schmecken?

Hinaus aus den Zentren, in die Randregionen. Städte sind schön, Zentren. Ich brauche die Stadt. In ihnen fühle ich mich wohl. Aber ich fühle mich auch zwischen den Zentren wohl? Anders. Es gibt viel zwischen den Zentren. Und ist das weniger wichtig als das Zentrum? City statt Schwammendingen statt Melchtal. Wieso meint das Gehirn, der Fuss könne nicht denken? Was würde mein Gehirn denken, wenn der Fuss nicht mehr dort wäre wo er jetzt ist? Das Bein? Beide Beine? Ein Arm? Was hat das Füllmaterial in unserer DNA für eine Bedeutung? Sind das die unwichtigen Randregionen neben den Genen, den Zentren? Ich will beides. Zentren und Dazwischen. Aber dafür braucht es eine Post, die an die Randregionen denkt, die sich bewusst ist, dass auch dort Menschen leben. Menschen, die Bedürfnisse haben wie die Menschen in der Stadt, auch wenn es mehr kostet, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Es braucht Läden in den kleinen Dörfern, Handwerk, Schulen, Bahnhöfe mit einem Bahnhofsvorstand.

Ich kann die Auswirkungen meiner Handlungen nur so weit kontrollieren, wie die Spannweite meiner Arme reicht. Ich kann darüber hinaus Einfluss nehmen. Ich möchte darüber hinaus Einfluss nehmen. Aber die Welt ist ein komplexes Gebilde. Ich werde Wirkungen meiner Handlungen spüren. Aber von wo? Welche? Welche nicht? Nur was innerhalb meiner Armspanne liegt kann ich genau verfolgen verstehen pflegen.

Was wäre passiert, hätte ich anders gehandelt? Wäre die Frau meines Lebens neben mir gesessen, hätte ich das Flugzeug genommen? Wäre mein Schmerz mit einem Male getilgt worden? Hätte meine Flucht plötzlich einen höheren Sinn bekommen? Woher weiss der CEO eines multinationalen Konzerns, was passiert, wenn er 15'000 Arbeiterinnen in Brasilien auf die Strasse stellt? Wird eine davon eine Revolution anzetteln, eine Revolte? Wird sie ihre Kinder lehren, die weissen Herren zu verachten? Wie kann ein Präsident davon ausgehen, dass ein Krieg so verlaufen wird, wie er sich das vorstellt? Dass es nachher keinen Terror mehr auf der Welt geben wird? Dass die Menschen nachher glücklicher und freier sind als zuvor? Ist das überhaupt sein Ziel? Kann er aus dieser Distanz noch verfolgen verstehen pflegen. Ich will keine Macht! Ich will Verantwortung übernehmen, für das was ich tue, will all das nach meinem besten Wissen und Gewissen tun. Und ich hoffe, dass auch andere Menschen Verantwortung übernehmen, dass sie tun, was sie für Richtig halten und trotzdem auf die Anderen hören. Auf alle die, die mahnen, bitten, flehen, schreien. Wenn es davon zu viele werden, ist das ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt, dass ich nicht auf dem richtigen Weg bin. Dass ich was an mich herangetragen wird verstehen sollte, verfolgen und pflegen. Auch wenn es keine Mehrheit ist. Ich will auf meine Mitmenschen Rücksicht nehmen. Und gleichzeitig Rücksicht nehmen auf meine eigene Stimme. Ich will mit all dem fertig werden, was nicht gut ist. Ich will die Verantwortung behalten über das was ich tue. Und deshalb will mich um das kümmern was in meinen Armen liegt. Und das in meine Nähe holen, was meine Nähe braucht. Und mich selber in die Arme nehmen. Verantwortung für mich und Verantwortung für die Allgemeinheit gleichzeitig. Das ist kein Widerspruch, keine Unmöglichkeit.

Die Suche, nach dem was Richtig ist, muss jeder Mensch bei sich selber beginnen und niemand kann einen Menschen dazu zwingen, sich auf diese Suche zu machen. Ich will Individuen um mich herum. Freunde, bekannte Gesichter, Fremde, Unbekannte. Ich will keine Massenbewegungen. Mir graut vor einer Nachhaltigkeits-Massenbewegung oder einer Anti-Globalisierungs-Massenbewegung. Genauso wie mir vor dem Mantra des Kapitalismus graut, der aus Menschen Lemminge macht. Wachstum, Wachstum, Produktivität, Profit. Judas warnt Jesus Christ Superstar: "Zuerst waren wir zwölf, dann waren wir hundert, dann tausend und jetzt sind es schon Zehntausend. Sei vorsichtig, es entgleitet dir!" Kein Verräter, ein Warner, ein Zweifler, ein Nachdenklicher, der seine Stimme erhebt. Deshalb gefällt mir die Bewegung der Globalisierungskritiker: Sie sprechen nicht mit einheitlicher Stimme. Sie haben kein Programm. Das und nur das ist lebensnah. Nur das kann wirkliche Veränderung bringen. Was könnte denn eine einheitliche Stimme schon Gescheites verkünden? Ein Programm für die Rettung der Erde? Einen globalen Menuplan für die kommende Woche?

Was ist denn schon richtig und was ist falsch? Wer entscheidet das? Was ist es, das mir den Halt geben könnte, eine Antwort auf diese Frage: Was soll ich tun? Ich höre keine Antwort. Wer soll mir eine Antwort geben? Die richtige Antwort. Vielleicht meine Kultur? Kultur ist von den Menschen gemacht. Und ich bin auch ein Mensch. Vielleicht lege ich ja mit diesen Gedanken, die ich aufschreibe den Grundstein für eine eigene Kultur? Vielleicht werden ja Tausende von Menschen über diese Gedanken nachdenken und ihre eigenen zum Ausdruck bringen, in Artikeln Büchern Fortsetzungen Filmen Theatern in ihrer Arbeit in Gedichten Internetseiten. Wird das eine neue Kultur sein? Eine Kultur der Nachhaltigkeit? Wird daraus ein Kult werden? Was lehrt uns die Vergangenheit? Ich kann die Vergangenheit nur an der Gegenwart gespiegelt erkennen, im Spiegel meines eigenen Seins. Auch meine Gegenwart wird dereinst Vergangenheit sein. Und was wird davon zu erkennen sein, was werden meine Kinder und Grosskinder erkennen, wenn ich schon längst unter dem Boden bin? Ich habe keine Ahnung. Geht mich das wirklich etwas an?

Wie haben die Menschen früher geliebt? War das anders? Hatten sie andere Gefühle? Ich glaube nicht. Auch bei ihnen gab es Schrecken, Armut, Rohheit, aber auch Zauber, Liebe, Freude. Es gab Stille, es gab Musik, es gab Lärm. Waren sie glücklicher? Werden die Menschen in der Zukunft glücklicher sein? Unglücklicher? Wer kann das schon wissen. Möglicherweise wird es genausoviele glückliche wie unglückliche Menschen geben. Deshalb will ich zu den Glücklichen zählen. Vielleicht werde ich ja das Zünglein auf der Waage sein. Deshalb will ich in der Gegenwart Verantwortung übernehmen, will nach bestem Wissen und Gewissen nach dem streben, was ich als eine bessere Welt ansehe. Das kann kein Ziel sein, keine Strategie. Denn Wissen und Gewissen können die Zukunft, das Ergebnis meiner Handlungen nicht kennen. So vieles ist möglich und denkbar. Und selbst das Undenkbare ist durchaus Teil des Möglichen. Wissen und Gewissen kennen nur meine Sehnsucht, die mich im Moment packt, und die in einem Moment weit in der Zukunft auch noch da sein wird. Meine Sehnsucht nach einer besseren Welt. Nur weil ich die Folgen meiner Handlungen nicht kenne, heisst das noch lange nicht, dass ich dafür keine Verantwortung übernehmen kann. Ich will Verantwortung übernehmen. Ich will die Augen und die Ohren offen halten, will meinen Geist wach halten für das was kommt. Und wenn es schlecht kommt, will ich mich dafür einsetzen, das Schlechte zum Guten zu kehren.

Ich wünsche mir Politiker, die nicht einem Ziel nachrennen, sondern ihrer Sehnsucht folgen. Ihre Sehnsucht offen auf den Tisch legen und zur Diskussion stellen. Menschen, die offen sagen können, dass sie nicht wissen, ob sich ihre Sehnsucht dereinst erfüllen wird. Und ob diese Sehnsucht für alle anderen auch so erstrebenswert scheint. Aber dass sie ihre Entscheidungen jetzt im Geist dieser Sehnsucht treffen. Ich verlange von niemandem, die Zukunft zu kennen. Aber ich verlange von mir, dass ich die Zukunft erfahren will. Ich wünsche mir Politikerinnen, die dazu stehen können, dass sie etwas nicht wissen, dass sie etwas ausprobieren, die Zukunft erfahren wollen. Geschwindigkeit zählt nicht mehr, wenn das Ziel unklar ist. Was ist ein Fortschritt, wenn ich nicht weiss, wohin die Reise geht? Eine Politikerin sollte sagen können: "Ich weiss was ich will. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist, was ich will. Und ob und wie wir es erreichen können." Dann können wir probieren, können Erfahrungen sammeln, Fehler machen. Welche Zeit läuft uns denn davon? Woher wissen wir, was morgen sein wird in einem Jahr in zehn Jahren in hundert Jahren?

 

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Ich bin auf der Suche nach einem neuen Leben. Ich stelle mir ein grosses Haus vor. Vielleicht einen Weiler, ein kleines Dorf. Ich will mein Leben mit anderen Menschen teilen. Mit einer Frau, mit vielen Kindern, mit Freunden, mit Fremden. Mir graut vor der Einsamkeit, auch wenn ich gerne allein bin. Ich will leben, was ich an der Stadt so mag, ohne auf das zu verzichten, was mir am Landleben so gut gefällt. Ich will eine Brücke bauen zwischen Stadt und Land. Dem Zentrum und dem Rand. Menschen sollen um mich herum sein, viele Menschen. Viele verschiedene Menschen. Bekannte Fremde. Gleichgesinnte Gegensätzliche. Aber auch Raum, Boden zum bebauen, Luft zum atmen. Platz zum spielen, Wälder um sich zu verstecken.

Mir ist wichtig teilen zu können. Gemeinsam Ressourcen zu nutzen. Nicht jeder soll seinen eigenen Staubsauger haben müssen. Nicht jede Familie soll alleine kochen und zu Mittag essen müssen. Nicht jeder Vater soll alleine auf seine Kinder aufpassen müssen. Und am Abend möchte ich zusammen Musik machen können, zusammen ein Bier trinken und ein Fussballspiel am Fernsehen anschauen können. Ich will, dass meine Kinder mit anderen Kindern zusammen aufwachsen können. Eine Bande, wo die Ältesten voraus gehen und die Jüngsten hinterher. Wo Leben ist, Action, Geschrei.

Ich will körperliche und geistige Arbeit verbinden. Ich will an meiner besseren Welt bauen, meine Sehnsucht ausleben. Projekte in die Welt setzen, studieren schreiben reden. Aber ich will diese bessere Welt auch leben, nicht nur an ihr bauen. Ich will eine Verbindung zur Natur leben, sie mit meinen Händen spüren. Ich will meine Bedürfnisse aus meiner engsten Umwelt decken, auch wenn das mehr Zeit braucht, als im Supermarkt einkaufen zu gehen. Ich will in den Kreislauf der Natur eingebunden sein, ohne mich aus dem Kreislauf der Gesellschaft verabschieden zu müssen. Ich sehne mich danach, dass diese beiden Kreisläufe wieder Eins werden, ein einziges Rad des Lebens. Da bringt es nicht viel, wenn ich mich für das eine oder das andere entscheide.

 

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Die Schmieds reden nicht mehr mit mir. Dafür manifestieren sie ihre Borniertheit mit Bemerkungen über den Koch "der wird das Steak ja ohnehin nicht richtig hinkriegen", den Steward "ach, wie süss, dass er mich Ma'am nennt", oder mit belanglosen Bemerkungen über die Schweiz und die Welt " You know, in Switzerland, we ... But, in Switzerland, after 100km the culture is already so different." Mir wird übel. Tom, der glatzköpfige Amerikaner puffert. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Er redet mit ihnen, ich rede mit ihm. Ob ich sie verärgert habe, durch meine Vehemenz gegen die Kernenergie? Oder durch meine interessierte Fragerei? Mache ich ihnen Angst? Wollen sie mich erziehen? Sie halten mich sicherlich für einen jungen Schnösel. Halb so wild, ihre heile Welt kommt mir vor wie die Börsenblase vor dem grossen Crash. Und dann darf man erst noch nichts fragen. Bankgeheimnis. Stirbt man da nicht vor Langeweile?

Aber, leben sie denn nicht einfach ihre Sehnsucht? Werde ich auch einmal so sein, wenn ich meine Sehnsucht lebe? Bin ich anders als sie? Oder bin ich einfach jung und sie sind alt? Muss ich mich überhaupt für sie interessieren? Ich bin bereit meinen eigenen Weg zu gehen. Aber ich habe dennoch den Respekt und die Anerkennung meiner Mitmenschen verdient. Ich habe verdient als Mensch betrachtet und akzeptiert zu werden. Aber ist nicht tief in mir schon die Gewissheit da, dass diese Anerkennung letztlich von mir selbst kommt? Kann ich denn nicht am Rande der Gesellschaft stehen, belächelt verachtet gehasst gefürchtet und doch glücklich? Weil ich mit mir im Reinen bin, weil ich weiss, dass ich das Richtige tue?

 

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Dienstag morgen

Die ganze Nacht war Sturm. Das Schiff tanzte, wurde von den Wellen hochgehoben, fiel zurück, neigte sich mal nach links, mal nach rechts, mal nach vorne und nach hinten. Durch die Ritzen der Fenster heulte der Wind. Bei einem solchen Spektakel blieb mir nicht viel Schlaf. Trotzdem fühle ich mich frisch heute morgen, besser als in den vergangenen Tagen, wo ich oft matt war. Ich brauche Bewegung im Leben, Leidenschaft. Ich störe mich an der Blutleere, der ich oft begegne. Ich will das Feuer in meinen Adern leben können. Ich will Konflikten nicht aus dem Weg gehen. Ich will der Wahrheit ins Auge blicken können, auch wenn sie manchmal schmerzt. Ich suche nicht nach dem Guten allein, sondern nach der Bewegung, dem Auf und Ab. Schaukeln. Stürme ertragen, Heftigkeit.

Um das leben zu können brauche ich Zeit. Ich will nicht so lange arbeiten müssen, dass mein Leben zur Einöde verkommt. Ich will Zeit haben zu lieben, zu tanzen, am Becher des Wahnsinns zu nippen, mich zu vergessen und wieder zu finden. Ich will Zeit haben zu kämpfen, zu siegen, zu verlieren, mich auszuruhen, meine Wunden zu pflegen, Kraft zu tanken, wieder aufzustehen und aufrecht dem Leben entgegen gehen zu können.

Ich will nicht Jahre meines Lebens an einem Schreibtisch verbringen, die Augen auf einen Bildschirm gerichtet. Ich will Zeit haben Menschen kennen zu lernen Frauen zu lieben Kinder aufzuziehen unter einem Baum zu liegen und den Wind auf meiner nackten Haut zu spüren.

Ich störe mich an der Blutleere der Schmieds Büros Banken Labors Hörsäle. Was ist das für ein Leben, wenn Blut Feuer Wahnsinn Liebe Freude mit Geld aufgewogen werden? Was kann mich eine Wissenschaft lehren, die die Existenz, die ständige Präsenz und Pertinenz (?) von Gefühlen, von Freude Liebe Schmerz Trauer negiert? Und stattdessen nach purer Rationalität strebt, nach Allgemeingültigkeit und Objektivität und damit nach Standardisierung Vereinheitlichung Einöde. Wie sollen daraus Lösungen für die Probleme des Lebens, der Erde entstehen, wenn diese Probleme unseren Körper treffen, unser Blut, unser Leben, Unglück Lärm Schmutz Krieg, die Lösungen aber mechanistisch industriell tot theoretisch und blutleer sind. Wann hört die Gesellschaft um mich herum endlich damit auf, Verkehrsprobleme mit breiteren Strassen, Energieprobleme mit Kernkraftwerken und Hunger mit Gentechnologie lösen zu wollen. Sind alle wirklich schon so fantasielos geworden? Glauben wir denn immer noch an ein grosses Ziel an eine Richtung an einen Fortschritt? Und was bitte soll dieses Ziel sein? Wohin geht der Fortschritt? Wann wird man aufhören die Probleme der anderen lösen zu wollen, ohne sich mit den eigenen Problemen zu befassen? Können unglückliche Menschen den Weg in eine nachhaltige Zukunft aufzeigen? Können Industrieländer geprägt vom Überfluss und der Verschwendung diktieren was Entwicklung sein soll, Fortschritt?

Wo kann ich lernen mit meiner Leidenschaft zu leben? Schmerz zu ertragen? Keine Lehrerin hat mir davon gesprochen, kein Lehrer. Meine Eltern? Nicht explizit. Mir blieb nur die Schule des Lebens. Enttäuschungen, Liebeskummer, betrügen und betrogen werden. Wer wird meine Kinder auf der Suche nach sich selbst begleiten? Auf der Reise rund um das Rad des Lebens? Wer wird ihnen helfen das Feuer zu erfahren das Wasser die Luft die Erde? Leidenschaft Leichtigkeit sich davon tragen lassen und mit beiden Füssen auf dem Boden stehen? Ich will das tun. Mit all meiner eigenen Leidenschaft. Ich hoffe, ich werde nicht der einzige sein, der meinen Kindern davon erzählt. Aber dann werde ich es gerade deshalb tun. Was lehren denn unsere Schulen, unsere Universitäten? Sie lehren zu denken ohne zu fühlen. Und es braucht doch beides.

 

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Nachmittags

Auch wenn ich mit jemandem streite, so will ich doch mit dieser Person konstruktiv sein. Auch wenn ich anderer Meinung bin, heisst das nicht, dass ich alles schlecht finde, was diese Person sagt und lebt. Es ist doch noch möglich Gemeinsames zu schaffen. Aber wie soll das mit den Schmieds gehen? Ich soll sie ja nichts fragen, und überhaupt reden sie gar nicht mehr mit mir. Wie sollen wir da konstruktiv sein?

Wie kann ich konstruktiv sein, etwas gemeinsam erschaffen mit einer Person, wenn ihr die Leidenschaft fehlt, die ich habe, das Feuer? Meine Leidenschaft verbrennt und überrollt so alles. Es geht auch nicht, wenn mein Gegenüber meint Recht zu haben, obwohl ich anderer Meinung bin. Ist Recht haben nicht eine Frage der Perspektive, der Werte, der Weltanschauung? Es geht nicht, wenn sich mein Gegenüber nicht bewusst ist, welche Sehnsucht sie oder er im Herzen trägt. Und die Sehnsucht nicht ehrlich auf den Tisch legen will.

Ich will keine heile Welt. Ich will keine Gummizelle. Ich will keine Rüstung tragen und kein Polster. Ich will das Leben spüren, nicht davon laufen vor dem Schmerz, vor der Angst. Ich will mich ihnen stellen, mit ihnen ringen, sie akzeptieren und sie damit überwinden. Ich will nicht Friede Freude Eierkuchen. Ich will keine Harmonie der Glückseeligkeit. Ich will eine Harmonie zwischen Gut und Böse. Ich weiss, dass es Schlechtes gibt auf dieser Welt, in meinem Leben. Mein Wollen strebt aber zum Guten, zum Konstruktiven, zu dem was meine Sehnsucht erfüllt und sie gleichzeitig nährt. Ich will Gut und Böse akzeptieren, Teil einer Einheit machen. Il ne faut pas avoir peur. Et il ne faut surtout pas avoir peur de faire bien les choses.

 

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Abends

Livia. Wieso geht sie mir aus dem Weg? Wieso will sie sich nicht mit meiner Liebe auseinander setzen? Wieso weicht sie einen Schritt zurück, wenn ich einen Schritt auf sie zu mache? Ist das Angst? Hat sie Angst verletzt zu werden? Hat sie Angst einen Fehler zu machen? Hat sie Angst etwas zu tun, was sie nicht will? Hat sie am Ende sogar Angst, mich zu verletzen?

Ich will eine Beziehung. Ich will eine Beziehung aus Leidenschaft. Eine Beziehung in der das Wollen regiert, in der das Wir entsteht, weil wir wollen. Ich will mit einer Frau zusammen sein, die weiss, was sie will, die ihre Sehnsucht kennt. Die noch Ich sein kann obwohl wir Wir sind. So wie ich im Wir Ich bleiben will. Was will ich mit einer Frau, die sich nicht spürt. Wie kann sie so opponieren, wenn ich etwas mache, was ihr nicht gefällt. Wie kann ich opponieren, ohne sie aufzureiben, sie zu lenken, sie zu zerstören. Ich will nicht gleichzeitig Ich Wir und Sie sein müssen.

Ich will Gegensätze überwinden. Hindernisse, Berge. Dinge, an denen zwei Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen hineingebracht haben, in denen Widersprüche zu einer Harmonie werden, solche Dinge sind dauerhafter schöner interessanter spannender effizienter durchdachter. Widersprüche sollen nicht aufgelöst werden, sie sollen überwunden werden und in der Harmonie weiter bestehen. Spannung schaffen. Ich dulde kein Machtgefälle gegenüber anderen Menschen. Sonst bleibe ich lieber allein.

Ich will nichts mit Menschen zu tun haben, die sich mir entziehen wollen. Ich werde ihnen nicht nachstellen. Ich will der Blutleere nicht nachlaufen. Ich will nicht mein eigenes Blut verwenden ein Nichts zu füllen, das nicht gefüllt werden kann. Ich will nicht dorthin gehen, wo das Feuer schon erloschen ist oder gar nie gebrannt hat. Was soll ich mit einer Frau, die meine Liebe ablehnt. Ich will doch nicht mit einer Frau zusammen sein, die nicht mit mir zusammen sein will. So bleibe ich lieber allein und behalte meine Liebe für mich. Genug! Ich habe genug von meiner Liebe gegeben. Ich will nicht mehr!

 

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Mittwoch

Ich habe schlecht geschlafen. Wieder mit den Zähnen geknirscht. Mein Kopf ist leer. In diese Leere hinein dröhnt es, das unendliche Dröhnen der Motoren. Ich wünsche mir Stille. Meine Backen schmerzen. Draussen ist es trüb, grau und nass. Wasser rinnt den Fenstern meiner Kabine entlang. Das Schiff schwankt. Seit Ewigkeiten schon, dünkt es mich. Und ebensolche Ewigkeiten wird es dauern, bis wir wieder Land gewinnen. Ich wünsche mir Ruhe.

Ich war an Deck. Das Schiff schwankte. Ich hatte das Gefühl, dass der Boden unter meinen Füssen nachgibt. Ich taumelte den Gang zu meiner Kabine entlang. Auf Deck spritzten mir feine Tropfen ins Gesicht. Der Wind war böig, nicht warm, nicht kalt. Meine Augen suchten den Horizont in der Trübnis. Sie fanden keinen, nur den Dunst zwischen Meer und Himmel. Schemenhaft waren in der Ferne die Umrisse eines Schiffs zu erkennen, Schemen die schwächer wurden, schliesslich ganz verschwanden. Dann war wieder nur unsere schmutzigbraune Abgasfahne da, die sich in der feuchten Luft verlor. Wir sind allein. Mein Körper ist ausgelaugt vom unruhigen Schlaf. Leer. Ich habe Mühe zu atmen. Die Leere in meiner Seele macht ein Heben der Brust zur Qual. Ich atme flach, spüre wie das Vakuum meine Lebensenergie nach innen saugt, aufsaugt und verschlingt, wie mein Körper geleert wird, nicht nach aussen, sondern nach innen, implodiert. Mir wird übel, ich bekomme weiche Knie, ich muss mich hinlegen.

 

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Man kann die Auswirkungen seiner Handlungen nur so weit kontrollieren, wie die Spannweite seiner Arme reicht. So ist es doch, oder? Ich habe doch Recht damit, oder etwa nicht? Bin ich der einzige, der sich solche Gedanken macht? Solche Fragen stellt? Was würde Livia sagen, wenn sie meine Gedanken lesen würde? Würde sie lachen? Würde sie den Kopf schütteln? Würde sie mich auslachen? Würde sie staunen, mich bewundern, mich für Verrückt erklären? Wird jemals jemand zu mir kommen und sagen: "Das ist gut, was du denkst"? Wann habe ich denn Recht? Wenn alle Leute mit dem Kopf nicken und zustimmend murmeln? Wie Schafe. Wenn alle laut aufheulen und mir widersprechen? Unkonstruktiv.

Was hat all das für einen Wert in der Zukunft? Bin ich auf dem richtigen Weg? Werde ich es mir einrichten können, dass sich meine Wünsche erfüllen? Werde ich einer Frau begegnen können, die wie Livia ist? Passiert denn jemals zweimal dasselbe? Begegne ich jemals zwei gleichen Menschen? Ist ein Mensch jemals gleich, wie er bei der letzten Begegnung war? Livia ist verloren. Werde ich je wieder lieben können? Was weiss ich schon was ich tun soll. Was ist richtig? Ich will dass mir jemand sagt, was richtig ist. Für das was richtig ist, kann ich kämpfen. Wenn ich nicht mehr kämpfen kann, ist es vorbei. Dann gibt es keinen Halt mehr.

 

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Donnerstag

Nichts. Meer, rundherum Meer. Und vor meinem Fenster Container. Es ist wärmer heute. An Deck blicke ich über die Weite des Meeres. Das Schiff pflügt sich seinen Weg durch die Weite. Das Meer ist blau, wie es schon immer war. Flach, ruhig, keine grossen Wellen. Die Filipinos gehen ihrer Arbeit nach. Schleifen den Rost ab, übermalen die Flecken. Wie schon jeden Tag. Das Salz greift das Metall an. Einer hustet.

Der Kloss im Hals. Die weichen Knie. Ich bin drauf und dran zu schreien. Ich könnte weinen. Ich möchte davonrennen. Ich möchte mich aus den Gedanken in die Körperlichkeit stürzen. Vergessen. Ich tue nichts von alldem. Ich lebe. Ich funktioniere. Was würde es mir helfen zu schreien zu weinen zu rennen? Was würde sich verändern? Zum Positiven? Nichts.

Was soll ich da wo ich bin? Was soll ich in Amerika? Ich wünschte, der Kapitän würde befehlen umzukehren. Aber wohin denn soll er umkehren? Vielleicht sollte ich nach Afrika. Aber wieso denn Afrika? Ach, elendes Tagebuch. Wieso schreibe ich denn überhaupt? Nur aus Gewohnheit. Aus der Gewohnheit zu flüchten. Weil sich alles einfacher machen lässt. Wozu das alles? Es ist vieles schlecht auf dieser Welt. Aber nichts bewegt sich. Nichts hört. Nichts versteht. Ich habe ohnehin nichts zu sagen. Ich habe nichts zu sagen. Nichts.

 

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Freitag

Ein wunderschöner Morgen. Ich erwache früh, sehe ein kleines Eck eines Containers, das golden leuchtet. Draussen ist es warm, es weht ein leichter Wind. Die warme, feuchte Luft fühlt sich unglaublich zärtlich an, nach dem kalten langen Winter. Wir sind im Golfstrom angekommen. Wir fahren gegen den Strom.

 

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Beim Morgenessen fährt mich Frau Schmied an, weil ich, wenn Tom auch am Tisch sitzt, immer auf Englisch antworte. Selbst wenn sie Schweizerdeutsch mit mir sprechen. Das trifft mich tief im Herzen. Sprache. Menschen verbinden. Ich will Tom von unserem Gespräch nicht ausschliessen. Es schmerzt mich, das zu tun. Sprache geht uns Deutschschweizern so nahe. Unser Dialekt ist so unendlich tief mit unserer Identität verankert. Es ist auch für mich so unnatürlich, mit Herrn und Frau Schmied Englisch zu sprechen. Aber die Mauer, die ich mit meinem Deutsch zu Tom aufbaue schmerzt noch viel mehr.

Ich will sprechen, ich will schreiben. Alle diese Gedanken und Gefühle drängen aus mir heraus. Ich bin anderer Meinung als Frau Schmied. Es wühlt mich auf, was sie gesagt hat. Ich verstehe sie ja auch. Es ist nicht einfach, sich in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache auszudrücken. Ich verstehe, wenn sie das als unhöflich, als befremdlich empfindet. Als arrogant vielleicht. Aber wenn ich Deutsch spreche schmerzt mich meine eigene Unhöflichkeit Tom gegenüber.

Ich will Frau Schmied nicht weniger als Mensch sehen, nur weil sie anderer Meinung ist. Aber es macht mich wütend, dass sie mir nicht zuhören will. Dass sie dadurch mir und meinen Gefühlen keine Achtung entgegenbringt. Ich will Frau Schmied nicht ändern. Aber meine Gefühle sind mir wichtig. Das bin i c h. Ich sehne mich danach, dass die Menschen miteinander sprechen können, obwohl sie eine andere Sprache sprechen. Dass die Gefühle der Menschen zusammenkommen, gefühlt werden, verstanden werden.

Zwei Menschen, zwei Meinungen. Wer hat Recht? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Nur die Suche nach der Zukunft. Nach Transzendenz. Ich weiss, dass ich Recht habe. Frau Schmied weiss, dass sie Recht hat. Ich lege mich nicht mit ihr an, weil ich sie ändern will. Ich denke nicht, dass ich und nur ich im Recht bin und sie im Unrecht. Aber etwas in mir lehnt sich auf, weil mir meine Werte wichtig sind. Weil ich meiner Sehnsucht nachleben muss, um glücklich sein zu können.

Ich kenne meine Sehnsucht. Ich weiss, was mir gefällt und was nicht. Ich weiss auch wieso, oder wenn ich es nicht weiss bin ich fähig, das herauszufinden, herauszuspüren. Ich kann Sicherheit erlangen. Das ist meine Rettungsleine, die mich vor dem Fall ins Bodenlose bewahrt.

Aber ich erhebe keinen Anspruch darauf, dass auch alle anderen Menschen das so sehen. Genau so wenig wie ich von mir verlange, dass ich alles gut finde, was andere Menschen sagen und tun. Oder was ein Mensch sagt und tut. Ich bin ich. Ich muss mich nicht für all das interessieren, was um mich herum vorgeht. Schliesslich ist meine Perspektive ja begrenzt. Ich muss nicht nach Objektivität suchen. Nach allgemeingültigen Wahrheiten. Ihre Existenz ist eine Illusion. Ein Trugbild unserer Suche nach Wissen. Sinn und Sehnsucht entspringen in mir selbst. Ich will diese Quelle finden. Und ich will lernen, welche Launen sie nährt, welche Lust, welche Leidenschaft. Und daraus will ich meine Rettungsleine drehen.

 

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Samstag

Gestern Abend habe ich mit ein paar der Filipinos eine Kiste Bier geleert. Sie führen ein hartes Leben. Neun Monate auf diesem Schiff, getrennt von Freundinnen, Frauen und Familien. Diskutiert haben wir, erzählt, Fotos angeschaut, bis tief in die Nacht hinein. Mani ist einer von ihnen. Fünfzig vielleicht. Über Diktatoren, Banken, die Zukunft, Kinder, Militär, Krieg, Frieden, Kernkraftwerke, die Nutzung der Sonnenenergie, Abfall, Entwicklungsländer, Industrieländer haben wir geredet. Es ist verrückt. Er schleift Rost ab für 700 Dollar im Monat. Und mit all seinen Gedanken, mit seiner Sehnsucht sollte er doch auf den Philippinen sein können. Sollte versuchen können, in seinem Land etwas zu verändern.

Und dann die Schmieds mir gegenüber beim Frühstück. Herr Schmied ist ja ganz nett. Ich merke, wie er sich bemüht, fast entschuldigend, etwas von der Unfreundlichkeit seiner Frau zu kompensieren. Sie hält sehr wenig von mir, das spüre ich. Mani gestern Abend, Frau Schmied heute morgen. Ein Gegensatz, ein Widerspruch. Und doch fühle ich mich leicht. Ich merke, ich muss mich nicht für Frau Schmied interessieren. Wenn ich mich ihretwegen aufrege, ist das nur ein unnötiger Kraftverschleiss. Sie betrifft mein Leben nicht. Sie hat nur so viel Macht über mich, wie ich ihr gebe. Ich darf mich von Mani anspornen lassen, und Frau Schmied einfach links liegen lassen. Ich muss auf diese Bremse nicht reagieren. Und wenn ich es tue, ist das meine Verantwortung. Nicht die von Frau Schmied.

Ich muss mich nicht für alles interessieren, was um mich herum und in der Welt vorgeht. Zeitungen Fernsehen Radio Internet. Sie sind voll von Nachrichten. Guten und schlechten. Wobei die Schlechten wohl überwiegen. Muss ich auf alles hören? Muss ich jeder schlechten Nachricht, jeder geistlosen Schrulle hinterher sinnen und mich von ihnen hinabziehen lassen? Nein. Ich muss mir bewusst werden, welche Menschen Dinge Gegebenheiten innerhalb meiner Armspanne liegen. Real und virtuell. Die, die mich interessieren, denen muss ich nachlaufen, meine Aufmerksamkeit auf sie lenken. Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken. Mich mit ihnen verbinden. Ohne dabei diejenigen zu vergessen oder zu ignorieren, die mich betreffen, die ich aber lieber nicht hören möchte. Oder die mich nicht interessieren.

Aber ich darf auswählen. Ich habe die Freiheit. Meine Perspektive eingeschränkt ist. Ich kann nicht alles wissen. Ich bin kein junger Gott. Ich muss meine Perspektive verwalten, meinen Blick dort hin richten, wo mein Gefühl sagt, dass mein Blick hinfallen muss. Ich muss mich einschränken. Die Komplexität, das Chaos, die Welt überfordert mich sonst. Und manchmal muss ich mich auch öffnen. Muss meinem Geist freien Lauf lassen. Kiffen.

 

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Ich kann die Welt nicht retten. Es gibt keine Formel, die ein Mensch in die Welt setzen könnte, und die alle Probleme auf einen Schlag lösen würde. Nachhaltigkeit ist nicht Ziel Programm Strategie. Nachhaltigkeit ist eine Sehnsucht ein Wunsch ein Wollen ein Weg. Kein Umsturz keine Revolution keine Revolte kann Nachhaltigkeit herbeiführen. Es kann immer nur ein Schritt sein. Alles ist immer nur ein Schritt. Und es wird nie einen letzten Schritt geben, der uns noch vom Paradies trennt. Wir sind schon im Paradies. Jetzt sollten wir es gestalten.

Ich muss keine objektiv richtigen Antworten liefern. Ich kann auch nicht erwarten, dass irgendjemand solche Antworten liefern kann. Auch wenn er es vorgibt. Wann wird es Politikerinnen geben, die dazu stehen können, dass sie keine objektiv richtige Antwort haben. Ich werde an mir arbeiten müssen. Ich werde aus mir heraus Antworten und Entscheidungen generieren müssen, auf die Fragen, die sich mir stellen. Ohne dabei meine Sinnesorgane ausser Betrieb zu setzen. Augen Ohren Nase Haut und Geschmack, mein Herz offen halten.

Ich bin einer Frage begegnet: Wie kann ich glücklich sein? Auf diese Frage will ich eine Antwort finden. Und ich will diese Antwort leben. Meinem Glück eigene Massstäbe setzen, meine Sehnsucht ausleben. Ohne Garantie, dass ich es erreichen werde. Im Bewusstsein, dass es nie einen Glückszustand gibt. Und aus dieser Erkenntnis das Glück des Moments schöpfen. Der Moment ist der einzige Zustand. Alles andere ist in Bewegung. Ich will nicht vor meiner Realität flüchten. Vor dem Moment gibt es keine Flucht. Auch die Flucht ist Realität, so wie alles, vor dem ich flüchte. Alternativen. Ich will die Alternativen, die mir meine Realität trotzdem bietet, die kleinen Auswege erkennen und sie erleben. Und vielleicht kann ich sie anderen Menschen auch eröffnen. Einer Frau vielleicht? Anders sein als alle anderen. Zeit haben, Zeit verschwenden können. Einen Nachmittag lang aufs offene Meer starren. Zeit heilt Wunden.

Der Moment. Er ist wichtig. In ihm liegt meine Sehnsucht mein Wollen das Ziel. Die Erfüllung des Ziels ist Teil der Zukunft, jenseits des Moments. Und die Zukunft ist erst dann gesichert, wenn sie zur Gegenwart wird. Ich kann sie nicht kennen. Ich kann sie nur erfahren. Im Moment ihrer Gegenwart.

Ich will den Moment, die Momente leben. Ich will in der Gegenwart sein, meiner Realität. Ein Wanderer, der bewusst seinen Fuss aufsetzt, einen Schritt macht. Nicht eine Wanderin, die immerfort ans Ziel denkt. Sie ermüdet schnell und verliert ihre Hoffnung in Anbetracht der vielen Schritte, die sie noch gehen muss. Jeder Schritt hat eine Richtung. Jeder Schritt trägt einen Gedanken an ein Ziel in sich, eine Sehnsucht. Jeder Schritt kann auch eine Erfüllung werden, wenn er selbst zum Ziel gemacht wird. Nachhaltigkeit ist ein Weg.

So lange ich den nächsten Schritt sicher aufsetzen kann, muss ich nicht besorgt sein. Auch wenn der Abgrund nur drei Schritte entfernt ist. Und wo Gefahr droht kann ich den nächsten Schritt mit der nötigen Sorgfalt aufsetzen. Langsamer gehen. Zeit nehmen zum durchatmen. Wenn ich mich atmen spüre, weiss ich, dass meine Seele auch da ist.

Moment für Moment, Schritt für Schritt. Das muss nicht langweilig sein. Das braucht nicht eine unerträgliche Stille zu sein, eine stete eintönige Gleichmut. Ich will nicht mit einer ewiggleichen, gleichmütigen Fratze umherlaufen. Ein Moment kann schnell sein, voll Spannung. Ein Moment kann traurig sein freudig nachdenklich exstatisch. Es ist nicht der Moment selbst, der wichtig ist. Sondern das, was im Moment passiert.

 

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Bald bin ich in Amerika. Nach was suche ich eigentlich in meinem Leben? Was sind meine Bedürfnisse? Wärme, Nahrung, Liebe, Arbeit, Entspannung, Inspiration, Sinn. Und alle möglichen Kombinationen davon. Meine Sehnsucht: Diese Bedürfnisse so zu befriedigen, wie es meiner Vorstellung von einer besseren Welt entspricht. Das wird mein Leben sein.

Mit Holz heizen. Das befriedigt mein Bedürfnis nach Wärme. Es bedeutet auch Arbeit. Holz kann eine Quelle von Inspiration sein. Und mit Holz zu heizen macht Sinn, Holz wächst vor meiner Haustür, Holz braucht nicht über die Weltmeere herangeschifft zu werden. Für Holz werden keine Kriege in fernen Ländern geführt. Holz wächst nach. Holz lebt. Es braucht Zeit, mit Holz zu heizen. Selbst wenn ich es nicht selbst schlage. Ich muss es einlagern, muss es bis zum Ofen tragen, muss einfeuern und muss das Feuer pflegen, ihm immer wieder Nahrung geben. Aber es ist mir wert, diese Zeit zu investieren. Was verpasse ich in dieser Zeit? Vieles, aber doch, würde ich es nicht tun, würde ich auch vieles verpassen. Es gibt immer etwas, das ich verpassen kann, gerade verpasse oder schon verpasst habe. Wenn ich mein Holz selber mache, setze ich in unserer Welt weniger Geld in Bewegung. Ich leiste etwas selber, muss nicht dafür bezahlen, senke das Bruttosozialprodukt, verlangsame unsere Wirtschaft. Ist das schlecht?

Und auch hier wieder: keine allgemeingültigen Antworten. Was wird mich in Amerika erwarten? Was wird hier mein Wärmebedürfnis befriedigen? Wird es die Sonne sein? Heisses Wasser aus dem Erdinnern? Was auch immer sich geeignetes in meiner nächsten Umwelt finden lässt.

Nahrung. Durch die eigene Arbeit von der Natur erbeten. Liebe. Geben und Nehmen. Ohne Forderung. Ohne Eifersucht. Mit Leichtigkeit. Ohne Selbstauflösung, ohne Selbstzerfleischung. Arbeit. Kein Zwang, angetrieben von der Freude etwas zu erschaffen, meine Bedürfnisse zu erfüllen. Entspannung. Alles loslassen können. Alles annehmen können, so wie es gerade ist. Und trotzdem noch ich sein und mich daran freuen. Inspiration. Leben, Eindrücke, Energie. Sinn. Die Quelle in mir spüren und spüren wie die Energie die dort entspringt ein Buch, eine Idee, ein Bild, meine Arbeit zum Leben erwecken, einen Menschen zum Blühen bringen kann.

 

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Sonntag

Musik. Manu Chao. Die Musik einer globalisierten Welt. Die Musik ihrer Bewohner, der modernen Nomaden. Die Musik der Sesshaften, die den Geist der Zigeuner in sich tragen. Musik hat die Kraft den Moment zu reinigen. Musik kann ein Gefühl für eine Weile von Gegenargumenten und Widersprüchen befreien. Meine Arbeit, mein Leben soll solche Momente enthalten, soll geprägt werden, von solchen Momenten. Für die Zeit der Musik in ihr aufgehen, fort getragen vom Wind. Und dann schauen was nach der Musik kommt. Welches Gefühl da ist, welche Gegenargumente und Widersprüche standgehalten haben. Ein Zeichen, dass sie ernst zu nehmen sind. Ich zweifle viel, ich habe viel gezweifelt und ich hoffe, dass ich nie aufhören werde zu zweifeln. Aber von Zeit zu Zeit muss der Zweifel auf die Seite geschoben werden, muss dem Schöpferischen Luft und Raum lassen, sich zu entfalten.

 

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Ich bin bereit zu akzeptieren, was Livia mir anbietet. So wie es ist, ist es. Einschliesslich meinem Gefühl, das sich in mir ausbreitet, wenn ich zur Kenntnis nehme, was Livia mir anbietet. An und mit diesem Gefühl kann ich arbeiten. Wenn es schlecht ist, muss ich etwas ändern. Entweder ich ändere mich mit meinem Gefühl, oder ich ändere die Umstände, die das Gefühl hervorrufen. Ich strebe nicht mehr nach der Erfüllung einer Vorstellung. Wir müssen nicht zusammen sein. Eine Liebesbeziehung haben. Ich will mich einfach gut fühlen können. Es ist nicht Livia, die mir das Leben schwer macht. Ich bin es selbst, der sie zu dieser Bedeutung erhebt. Jetzt interessiert mich meine Zukunft. Und da ist es nicht hilfreich, wenn ich mit einem Klotz am Bein versuche über den Atlantik zu schwimmen. Freude, Sommer. Und da draussen hat es noch so viele Frauen, die es wert sind, geliebt zu werden. Du bist es auch, Livia. Aber vielleicht ist das die Aufgabe von einem anderen Mann. Nicht von mir.

 

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Möwen. Seit gestern sind sie wieder zu sehen. 500 Seemeilen von der Küste entfernt. Ich habe aufgeschrieben, was ich mir wünsche, wie ich mir die Welt vorstelle, mein Leben auf dieser Welt. Ich habe geschrieben, wie wichtig mir die Sehnsucht ist, wie ich sie brauche, wie ich sie leben muss. Und dass ich denke, dass die Welt ein besserer Ort wird, wenn alle Menschen lernen ihre Sehnsucht zu kennen, zu ihr zu stehen und sie zu leben. Aber funktioniert die Welt heutzutage denn nicht schon so? Müssen wir denn überhaupt etwas ändern? Ich weiss es nicht. Ich weiss, dass ich es lernen muss, dass ich es ständig werde lernen müssen, dass ich ständig meine Sehnsucht werde suchen und hinterfragen müssen. Dass sich ständig etwas wird ändern müssen. Denn wenn das Leben einmal vor sich hinplätschert, dann ist die Sehnsucht gestorben. Dann verliert die Zukunft ihre Kraft in der Gegenwart.

Ich. Immer ich. Egoismus? Ist nicht gerade dies das grosse Problem dieser Zeit, dass die Menschen egoistisch sind? Nur nach ihrer eigenen Erfüllung streben, ohne sich für andere zurücknehmen zu können? Ich will den Egoismus neu erfinden. Einen Egoismus finden, der sich der Einzigartigkeit meiner Perspektive bewusst ist. Einen Egoismus, der erkennt, dass ich das Zentrum meines Universums bin, dass ich der Punkt bin, in dem Aussen und Innen aneinander stossen, sich vereinen. Aber ein Egoismus, der erkennt, dass jedes Individuum das Zentrum seines Universums ist. Und dass alle Zentren gleichzeitig existieren. Sie existieren in einem Kosmos, der unwahrscheinlich viele Zentren hat, selbst Zentren, die sich unserer Kenntnis entziehen. Und doch ist mein Zentrum etwas Besonderes. Und doch ist mein Zentrum nichts Besonderes.

 

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Montag

Seit Mitternacht ist der Pilot an Bord, der unser Schiff an den Untiefen vorbei den Delaware River hinaufsteuert. Ich stehe noch vor Sonnenaufgang an der Brücke und sehe die Raffinerien, die Chemiewerke, Kraftwerke, die Autobahnen, die Werbeplakate.

Das gleiche Gefühl wie in Liverpool überkommt mich. Alles noch beim Alten, die Realität. Kräne Container Schiffe Industrie Güter Verkehr und irgendwo zwischen drin die Menschen. Nichts hat sich verändert in den vergangenen zehn Tagen. Oder etwa doch?

Ein Pier am Fluss. Eddystone, Chester. Amerika. Eine kleine blutrote Sonne geht im grauen Dunst auf. Oder sind es Regenwolken?