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Friedrich Ernst von Helmholtz: Anmerkungen zur illustrierten Sittengeschichte sowie Aufstieg und Fall der Tyngörer Metropole
Als ich angelegentlich einer Studienreise im Herzen Zentraleuropas die Bibliothek einer im 17. Jahrhundert wieder habsburgisch gewordenen Kaufmannsstadt aufsuchte und in den Katalogen nach mittelalterlichen Bräuchen nachschlug, insbesondere auch nach den von der Obrigkeit in rascher Folge mehrmals erlassenen und verschärften Bussmandaten, stach mir eine Karteikarte beim Blättern ins Auge mit dem barock anmutenden Titel «Die Errichtung des Bussfalltores in Tyngör anlässlich der Erneuerung und Erweiterung des Zentralbahnhofs und deren Bedeutung für die sich ungeheuer rasch ausbreitende Bussfallmanie in der breiten Bevölkerung im Jahre 1869 nebst einem Anhang umfassend die Herkunft, Ausrüstung und die zu beachtenden Regeln dieser aus dem Vereinigten Königreiche eingeführten Leibesübung», was mich dann auf die im Folgenden mitgeteilten Erkenntnisse führte, die, wie ich hoffe, einiges zur Aufhellung der vom besagten Autor in verdankenswerter Weise vorgenommenen Erkundung der Geschichte Tyngörs beitragen mögen. Das unter dem Faszikel Bu/69/I-V abgelegte Konvolut von etwa sechzig Blättern im Quartformat, teils in bemerkenswert schöner Kanzleischrift verfasst, teils als gedruckte Fahnenabzüge einer offenbar nie endgültig publizierten Schrift, dessen Verfasser anonym blieb, erwies sich beim näheren Studium als so materialreich, dass ich bei der geringen mir zur Verfügung stehenden Zeit nur einige Exzerpte anfertigen konnte, die aber das Wesentliche dieser mir immer rätselhafter vorkommenden Erscheinung umfassen. Am Anfang dieser in der Geschichte Tyngörs wie auch der übrigen Weltgeschichte wohl einmaligen Episode stand die Reise zweier Kaufleute, Vater und SohnWartmann, die aus einem der angesehensten Geschlechter stammten und aus deren Reihen Bürgermeister und Stadtmedicusse in nicht unerheblicher Zahl hervorgegangen waren. Die Wartmanns fuhren also in die damalige Weltmetropole, die an der Themse gelegene Hauptstadt des Vereinigten Königreichs, wo sie in der Folge mit Geschick und einer für die Tyngörer kennzeichnenden Zähigkeit ihre Geschäfte so erfolgreich abwickeln konnten, dass sie mit randvoll gefüllten Auftragsbüchern ihre Heimreise antraten. Bevor sie aber den am Themseufer vertäuten Dampfer besteigen konnten, wurden sie Zeugen eines Vorfalls, der ihr Leben wie auch das ihrer Vaterstadt für kurze Zeit fast gänzlich auf den Kopf stellen sollte. Als sie nämlich das in der Nähe der imposanten Gebäulichkeiten des British Museums gelegene Hotel Old Trafford verliessen und sich auf der Charing Cross Road nördlich wandten gegen den Regents Park zu, bemerkten sie, wie von Baker Street her die ganze Marylbone Road, die zu diesem Zwecke abgesperrt war, von einer sich seltsam auf- und niederspringenden, fast mehr noch niederfallenden Menge von Leuten angefüllt war, die sich mehr oder weniger koordiniert fortbewegte auf ein Ziel hin, das den Wartmanns vorerst noch unklar blieb. Als sich diese einer von leichtem Sturmwind bewegten See ähnelnde, wellenartig sich die Strasse aufwärts bewegende Masse den beiden zuerst erschrockenen, dann immer mehr auch faszinierten Beobachtern näherte, wurden sie gewahr, dass jeder einzelne dieser sowohl Männer als auch Frauen und teilweise auch Kinder umfassenden Menge leichte Bambusrohre benutzte, die, zwischen die Beine gestellt, wesentlich zu dieser sprungweisen und, je nach Alter und Gewandtheit der Teilnehmer verschieden, teils elegant, teils auch grotesk anmutenden Fortbewegungsart beitrugen. Das Vorwärtskommen hatte eine nicht unbeträchliche Geschwindigkeit, so dass bald die vordersten Springfaller, wie sie der jüngere Wartmann etwas unbeholfen und vorerst provisorisch nannte, sich in kaum drei Fuss Abstand an den beiden Kaufleuten vorbeibewegten. Dabei entdeckten sie, dass diese an den Knien dicke Überzieher trugen, die den Aufprall der Kniegelenke auf dem Pflaster abmildern sollten. Wie sie späterhin erfuhren, bestanden diese Schoner aus dem von englischen Kaufleuten eingeführten, insbesondere aus dem malaiischen Archipel herstammende Kautschuk und waren für diese merkwürdige Leibesübung eigens vom schottischen Arzt Edward Dunlop entwickelt worden, was sich bald zu einem sehr einträglichen Geschäft ausweitete und Dr. Dunlop erlaubte, seinen weiteren, etwas exzentrischen Forschungen über diesen dehn- und stauchbaren Werkstoff nachzugehen, die ihn dann dazu führten, die eisenreifenbeschlagenen Fuhrwerksräder zu ersetzen durch Räder mit Kautschukreifen, die vorerst aufgenagelt waren auf die Holzfelgen, späterhin dann aber abgelöst wurden durch solche Reifen, denen der findige Arzt einen Hohlraum verpasst hatte, in welchen dann Luft eingelassen wurde, so dass dieselben nun die Wagen, vornehmlich aber noble Karossen, in bisher nie gekannter Leichtigkeit über die Wege und Strassen Englands rollen liess. Als nun die Wartmanns, bereits auf dem Schiff den Kanal überquerend in Richtung Hamburg dampften, sich all dieser Neuigkeiten nochmals vergewisserten, auch mit Hilfe von einschlägigen Verkaufsbroschüren und einer eigens von Dr. Dunlop angefertigten wissenschaftlichen Untersuchung zum Zwecke der "Verbreitung und Bekanntmachung der gesundheithlichen Vortheile einer neuen Leibesübung für das breite Publikum", wie es in der in mehreren Sprachen übersetzten Schrift hiess, deren Vorwort der berühmte und auch umstrittene Naturforscher Dr. Charles Darwin verfasst und darin seiner Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, dass die regelmässige Anwendung dieser Leibesübung einen äusserst kräftigenden Einfluss auf den gesamten zukünftigen Volkskörper haben werde, stand für die beiden gewieften Kaufleute fest, dass sie in ihrer Vaterstadt nichts unversucht lassen wollten, um dieser Neuerung zum Durchbruch zu verhelfen. In der alten Hansestadt angekommen, getrennten sich die Wege der Wartmanns, wobei der Vater seinen Geschäften oblag, der Sohn aber die Gelegenheit wahrnahm, die von Leben sprühende Altstadt und insbesondere das Hafenviertel zu besichtigen. Die mächtigen, aus dunkelroten Backsteinen erbauten Kontore und Speicher hinterliessen beim staunenden Wartmann junior einen nachhaltigen Eindruck vom blühenden Welthandel dieser grossen Kaufmannstadt. Davon zeugt auch eine auf den Franzosen Daguerre zurückgehende mechanische Abbildung mit handschriftlichen Notizen von Wartmanns Hand auf der Rückseite, welche einen Blick auf die Wasserstrasse zwischen hochaufragenden Speichern, Kranen und Brücken zeigt. Es war aber nicht sosehr die wohl bemerkenswerte Architektur, auch nicht die vielerlei exotischen Gerüche der hier wohlgestapelten Handels- und Kolonialwaren, welche die besondere Aufmerksamkeit des jungen Reisenden erweckte, sondern eben die bisher in Tyngör noch nicht bekannte, höchst bewundernswerte Kunst der mechanischen Abbildung. Davon zeugt die kurze Notiz mit dem Namen vonDaguerre, doppelt unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen. Es muss dem jungen Wartmann wie ein Blitz durch den Kopf geschossen sein, dass dies seine Zukunft sei in Tyngör, dieser neuen Kunst zum Durchbruch zu verhelfen und dabei wohl guter Geschäfte zu machen. Dass dieser Gedankenblitz bereits den Keim legte, der späterhin die Wartmanns entzweien und deren Vaterstadt Tyngör in den langsamen Niedergang führen sollte, war allerdings nicht vorauszusehen und mochte auch im Kopfe des Jünglings, der bereits die kühnsten und hochfliegendsten Pläne wälzte, schlechterdings keinen Platz greifen. [...]
[Anmerkung] Hier zeigt sich in den Aufzeichnungen bedauerlicherweise eine grosse Lücke, denn über die Gespräche während der nicht unbeschwerlichen Reise von Hamburg über Wien und Budapest nach Tyngör auf dem Landwege ist nichts überliefert. Es mag bereits heftigen Streit gegeben haben zwischen dem Vater Wartmann und seinem Sohn, denn bereits kurz nach der Wiederankunft in Tyngör firmieren die Wartmanns je unter ihrem eigenen Namen als Inhaber zweier selbständiger Handelshäuser. Auch über das offensichtlich bald auf die gesamte Stadt übergreifende Fieber des Bussfalles findet sich nichts Schriftliches mehr, so dass wir nur noch Vermutungen anstellen können anhand einiger Daguerrotypien, welche aus der Anstalt des jungen Wartmann stammen.
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