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«Blaustuhl» von Rahel Müller.

Das Übernatürliche stellte ich mir damals unbedarft als eine riesige, einzelne Hand vor, die zwar unsichtbar, aber in den Umrissen doch so etwas wie durchsichtig gezeichnet war, eine Hand, die vom Fluss herüberschwebte und eingriff und sich um das Stoffliche kümmerte und es woanders hintrug oder es ein wenig streichelte und dann in Nichts auflöste. Die Hand konnte irgendwie lächeln und reden. Meine Vorstellung von ihr leitete sich wohl aus der Geschichte in der Bibel ab, wo eine Hand "ene mene tekel" auf die Mauer schreibt: "gewogen und für zu leicht befunden", Warnung und Orakel zugleich. Es faszinierte mich zutiefst, wie eine überdimensionale, unsichtbar-sichtbare Hand, losgelöst von einen noch viel grösseren unfassbaren Körper, der wohl da hinter der Hand halb im Boden versunken hätte liegen müssen, um in der vorgestellten Position auf die Mauer schreiben zu können, diese sichtbar-unsichtbaren, sich bald wieder auflösenden Worte wie ein Urteil da hinschrieb, die Kreide oder Tinte direkt aus dem Zeigefinger entstehend. Mit dem Vorstellungsbild unlöslich verbunden war eine gleichzeitig in einem anderen, weit offenen Raum leicht herunterschwebende, schneeweisse Feder, die in sanft schwankenden Hinundherbewegungen sich langsam gegen unten schaukelte, nach oben gebogen wie eine zarte längliche Schale. Diese zwei Abfolgen sind meine erste Erinnerung an filmische Bildkörper, die sich parallel zueinander abspielten. Meine Aufmerksamkeit verfolgte gleichzeitig und mit einem damit verbundenen Grübeln diese zwei Sequenzen, ging nicht hin und her.
Es geschah etwas, und es geschah doch fast nichts.
Beide Raumbilder hatten etwas auffällig Stilles, Schweigsames, sodass diese fast schon beredte Lautlosigkeit ein allumfassender und allesumklammernder Zusatz war, ein beraumtes Drumherum- und auch Darindrinnensein. Wie ein Mantel umwölbte und umwolkte sie starrend vor Unbeschreiblichkeit die zwei Ereignisse, durchdrang sie und lud sie mit unsichtbarem, schwer zu beschreibendem Gewicht auf. Sie fiel mir auf, diese Stille, fast wie ein Atemanhalten, wie die Summe aller möglichen Erkenntnisse, sie schleuderte mich, das kleines Mädchen mit nackten Beinen, erdigen Händen und stummen, nach innen gekehrten Beobachterinnenaugen in einen riesigen Raum mit den bestimmten und bestimmenden Koordinaten des Schweigens, keinen Widerspruch duldend.
Sie schmerzte und erregte mich, sie zerrte und riss meinen Bauch in Sekundenschnelle auseinander und warf mich gewaltig an die Mauer, wo die Schrift war, die schon wieder verblassende. Ich war zurückgeworfen auf mich und empfand mich als so nichtig, so klein und substanzlos und so zutiefst unfähig, etwas Grossartiges zu denken, zu tun oder zu bewirken, dass es wehtat.
Es tat weh, die Unendlichkeit im Kleid der Endlichkeit zu treffen.

 

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