Das Dorf
von Rahel Müller

In meinem Kopf ganz hinten steht ein Dorf. So wie halt Dörfer stehen, zusammengekauert, hochgemauerte und aneinandergeklebte Häuser, ein wenig Landschaft in- und umwendig, wohlweislich zerteilt von flachen Strassen, ein fades bisschen Himmel darüber, ein Bächlein ohne Quelle, ein bis zwei Gefängnisse, wo wahlweise Gott oder die Kinder so lange wie möglich eingesperrt werden.
Die Menschen sollen gut in die netten Häuser passen und sie sollen schauen, dass die Häuser nett und hübsch anzusehen bleiben. Sie sollen sich nicht allzu zahlreich sonderlich hervortun, genügend Bewegungsenergie freisetzen, denn das putzt den Dreck der Gedankenverlorenheit und der Träumereien weg. Im Dorf unterscheidet man aus unerfindlichen Gründen zwischen Häusern zum Haben und solchen zum Arbeiten, die aber eigentlich auch zum Haben sind. Häuser zum Spielen gibt es auch immer mehr, die Spiele haben merkwürdigerweise immer mit Gewinn von Zeit zu tun. So langweilig die Zeitgewinnspiele und die ganzen Wettbewerbe sind, so beliebt scheinen sie.
Ich bin in einem Dorf, in jedem Dorf, in vielen Dörfern recht und schlecht grossgeworden. Die Grösse wurde in erster Linie als etwas Körperliches und materiell Sichtbares verstanden und die Wahrheit schien mir schon früh ein simpler Mehrheitsbeschluss zu sein. Die Erlebnisse im Dorf ordnen sich mit erschreckender Häufigkeit der Bedeutungslosigkeit einer Zeitungsmeldung unter. Die Zeitungen machen den Leuten das Leben so süss wie die Bäcker: und weltmännisch. Die Frauen lesen auch Zeitung, seit sie's dürfen, man kann auch Brot in Zeitung wickeln.
Im Namen des Dorfes, wir sind Welt.
Das Dorf hat mich geprägt, wünschte mich als eine der Ihren zu haben, ist in meinem Kopf drin: spucke es durch mehr und mehr Worte wieder zum Munde heraus. Bin immer noch mittendrin und war noch nie eine der Ihren. Habe von klein auf Ohren und Augen nur für die Ränder der Dinge und Gaukler und Matrosen gehabt.
Ich schaue in mein winzigklein Dorf hinten in meinem Kopf: die einzige Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, das Dorf endlich vergessen zu können ist, darüber zu schreiben. Die Begriffe wie schwere Steine von der Zunge ziehen. Mögen die Worte, die geschriebenen, den Part des Erinnerns verwalten, so sie können und wollen ...
Rufe den Matrosen, den einzigen, der nicht lügen muss. Der Matrose, ein Liebhaber von Meeren und Gewässern ist leider meistens weg. Im Wegsein ist er inniger Sehnsucht und tiefer Liebe fähig. Ich fahre in Gedanken zur See, hinterlasse dem Dorf oder mir ein paar Spuren und wage, einst fast vollständig der Sprache beraubt, die verstreute Seele wieder einzusammeln mit dem Hauch der Elemente und im Wehen flüchtiger Momente. Sooft ich auch scheitere, halte ich unterwegs das Glück doch in dünnen Fetzen mit zitternden Händen. Dem Dorf ist das Flüchtige kein Haus zu bauen. Dem Dorf ist das Glück kein schwankendes und schlingerndes Schiff. Dem Dorf sind Matrosen Verräter, die weggehen und über die man nicht spricht: auch weil man nicht zu sprechen gelernt hat.
Im Dorf ist das soziale Leben wohlgeordnet, wenn nicht gar übersichtlich. Die Hierarchie ist noch immer die gottgewollte, gottverdammte alte Hierarchie der Patriarchen, die nie vom Zustand des ewigen Sohnes in den des Vaters gewechselt haben: obwohl sie so tun als ob. Wie wir alle von klein auf aufs Gemeinste erzogen sind, so zu tun als ob. Irgendwann kann man das dann schon ziemlich gut, die es weniger gut können, müssen halt noch üben.
Mein Vater liegt im Sterben: wie alle Väter stirbt er qualvoll langsam. Die Mütter leben am längsten, weil sie für andere leben. Das ist für andere sehr bequem. Die Kinder kratzen an allem, was sie finden, wenn sie müde davon sind, werden sie erwachsen. Letztlich sterben alle an der gegenseitigen Gleichgültigkeit.
Matrosen, Gaukler, Zigeuner und Schaumschläger werden nie erwachsen, wir wachsen einfach mit Flüssen, Seen, Meeren und Gauklerzügen aus dem Dorf heraus und spülen die Spuren unserer Schatten in die Weite, schnuppern nach dem Unbekannten, träumen auf Schiffen herum, hüllen uns in Glitzern und Flunkern und geben dem ein Gesicht, was aus uns herauslächelt.
Heute spricht man wieder gerne vom Dorf, man nennt die Welt «das globale Dorf»: eine gelungene Folge von Werbung, welche die Leere erkannte und mit einem verwirrend unübersichtlichen Zeitverlierspielchen bis zum Rande hin wieder auffüllte. Jetzt droht die Gefahr des unübersichtlichen Überlaufens, aber auch das wird verschleiert und entschärft. Der Wunsch nach Freiheit wird einmal mehr mit der Angst davor in Schach gehalten. Es verdienen jetzt schon fast alle anständig, nachdem schon immer fast alle anständig gelebt haben, so anständig und inständig anstehend an alles Vorgegebene. Die vorgehaltene Hand verbirgt die Ambivalenz, die Wut, die Gier, den Neid, die Langeweile und die Ohnmacht. Die meisten Dörfler stehen weit und weiter hinten hinter ihrer vorgehaltenen Hand, während sie mit der anderen Dinge zählen. Dinge zählen, das ist etwas, was Dorfbewohner unheimlich gerne machen. Sie werden nie so richtig satt davon. Die Hand, die sich selber gereicht, sich schon fast genügt, die Hand, die langsam an Vorhaltungen stirbt. Weise waren früher die Alten, die Ältesten, heute sind sie ein- oder ausgeliefert. Manche sind bestenfalls ausgewandert. Sie schreiben zeitweilig Karten, die sie in anderen Dörfern gekauft haben. Darum sind das Posten und die Post, der Pfosten und die Pforten so wichtig.
Heute sind wir endlich Individuen, die Freiheit geniessen. Das Individuum geniesst die Freiheit, indem es konsumiert. Das macht dem Individuum viel Spass, und wenn nicht, geht es halt durch alle Stadien der Angst und Verlassenheit hindurch, um geläutert dann doch wieder in die Gemeinschaft der Konsumenten (denn so heissen Dorfbewohner im globalen Dorf) aufgenommen zu werden.
Viele rennen in die grösseren Dörfer, weil diese die besseren Werbungen haben. Geworben wird für alles, was überflüssig ist. Das Individuum geniesst dort noch mehr Freiheit. Das macht es, indem es ziemlich viel Zeit in den Häusern zum Arbeiten und Spielen, und wenig in den Häusern zum Haben verbringt. Aber wie gesagt, diese Häuser sind leicht und angenehm zu verwechseln.
Ich rufe die Matrosen, die Zigeuner, die einzigen, die nicht lügen müssen, aber können. Die, welche mit dem Wasser gehen und selten wiederkommen. Denen der Sturm in die Segel fährt und die, wenn sie lieben, es ohne vorgehaltene und Dinge zählende Hände tun. Und die mich und sich mit ihren Lügen und Sternenaugen zum Lachen bringen: Kinder der Freude jenseits der Gefängnisse.
Nun denn: so rolle ich den Stein meiner Geschichte den Berg herunter, haarscharf am Dorf vorbei.

... und das genau am 19. Juli 2002, um 20.00, oberhalb eines Dorfes, ich lade alle ein, daran teilzunehmen ...

 


Rahel Müller, Das Dorf erschien im Juli 2000 als Beitrag zum Projekt Urlaub (http://www.wortwerk.ch/urlaub)
Copyright bei der Autorin (rahelmueller@hotmail.com) und [wortwerk] (info@wortwerk.ch)