19940318 betrifft wiedererwägung und neuerlicher versuch meinerseits

mein lieber steinweg

 

 

> du hasst ja recht: von wegen schlechzen gewissens und so fort. gerade wenn bei mir andere das tagesgeschäft eintheilen, habe ich abenz auch keinen finger mehr: nicht einmal für die freu(n)den franzreichs. doch alljetzo, wo dein beichtgeheimnis brutal in meine nacht einschlägt und mit schall im schnönsten und freilichsten traum krepiert, muss ich, wenigstens für den vorspann, schon in dieser frühen morgenstunde, noch vor sieben, mich hinsetzen und, bevor ich mich der er(dan)ziehung von krindern und krinderinnen in spreicher widme, folgendes schreiben (ich weiss, das dir das jetzt noch nichts nützt, weil du den fax erst am abend erhältst, dann allerdings vielleicht, bevor du aus dem alltaxtunnel herangekrochen kömmst): «deine sünden sind dir vergeben, denn deine sünden, die du gen himmel hast gerufen, sind erhört worden. gebenedeit seist du mein freund und sohn für dein bereuen. gebenedeit sei die heilige familie, die schläft, gebenedeit seist du selbst, der steuerflüchtige, der abstruse lebemann, der primus interregio, der elektrische konfirmand, der knebelscheissen-durchschneider.» (hankathus 1,1-4) so weit kann ich dir durchaus auf die sprünge helfen und dich befreien von der last deiner sünde (durch aufschub). für deine weitere klage, die immer gehörte klage gegen das leben, allwelches du als ernüchternd bezeichnest, kann ich dir keine abhilfe schaffen, vielmehr muss ich selber einstimmen und rufe, nicht minder elegisch: «auch an mir rauschet das leben vorbei, alswenn das leben die bäume vor dem fenster wäre und die blätter die lustig wiegen im wind, und die äste die lustig schaukeln und die kronen die hin und her immer wieder gehen, wenn der wind es will, sind die facetten dieses lebens selbst, welches von hier drinnen schillernd aussieht, aber, ich weiss, wenn ich im baum sitzen würde, so aufregend auch nicht wäre. es ist dies einmal mehr das irrationale verhältnis zwischen der praxis, welche das leben selber ist, und der theorie, welche sich das leben zu erklären versucht und dann vorgibt, das leben selbst zu sein, selbstverständlich. draussen im baum herrscht mit höhen und tiefen, im moment des mindesten nachtz, unter null grad, die praxis und hier drin, tot falle, wers nicht geahnt hat, die theorie, die, empirisch zwar, das leben als experiment vor sich auf dem tisch hat, im grunde dem leben spinnefeind, als eigentlicher kontrahent sich aufspielt.» so und nicht anders spricht positas, der schiere laller, spricht hankathus, der hauptsächliche häuptling und weiss, nicht nur weil er nicht klettern kann, dass der baum für ihn unerreichbar ist. und wieder einmal sind wir in der remiremont-lage und das de-la-poste-syndrom erfasst unser gehirn. das ist, weil wir wissen, dass cioran in besseren und stringenteren, konziseren formulierungen an unserem problem zerbrochen ist. darum schweigen wir meistens lieber und lassen die würfel sprechen, dass nämlich auch die frage nach schicksal oder zufall entkräftet sei und nur der zufall uns zwischenzeitlich zu denken gebe. in dieser sache werde ich dich wohl gelegentlich anrufen.

> am wochenende werde ich wie besessen an ernst hegelbachs leben arbeiten, um auch diese geschichte noch abschliessen zu können, denn dann sind die gedanken wieder frei (wohin sie auch fliegen und bleiben dahabei).

grüsse mir die schlaffende heilige familie, das ist estelle selbdritt, und selbst: ein wenzel.

 

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