Doña Anna de Leon: Eine biografische Skizze
Das Leben Doña Annas liegt, bevor wir sie in Toboso, im unschuldig verführerischen Gewand der Frühlingskönigin, zum ersten mal zu Gesicht bekommen, einerseits aufgrund mangelnder Auskunftsbereitschaft, andrerseits aber auch aufgrund einer schlechten Dokumentation, weitgehend im Dunkeln. Anna de Leon wurde in Toboso als Tochter des Kaufmanns Don Gabriel und der Doña Isabel, geborene de Vargas, am Morgen eines sonnigen Frühlingstages geboren. Sie schrie nicht, sie gab keinen Laut von sich und erregte sofort die Sorge der Ärzte und Eltern. Nachdem sie anfänglich zu leicht war und auch nicht den Plänen der Ärzte gemäss zunehmen wollte, entwickelte sie sich später rasch und zur Freude ihrer Eltern. Ihr erstes Wort sei das verfälschte katalanische potok, Pferd, gewesen. An ihrem ersten Schultag habe sie die Lehrerin, als diese mit den Kleinen habe singen wollen, aufgefordert, nun endlich zur Sache zu kommen. So oder ähnlich erzählte ihr Onkel Raùl, der Anna stets seine Lieblingsnichte nannte. Die Aufgabe dieser wichtigsten Beschäftigung hängt vielleicht aber auch mit einem andern Umstand zusammen. Im Alter von fünfzehn Jahren, zu grosser jugendlicher Schönheit erblüht, verbrachte Don Gabriel seine Tochter, ohne Vorankündigung und gewissermassen über Nacht, in die Nachbarstadt in ein Kloster unter die Obhut der Ordensschwestern. Den wahren Grund für diesen einschneidenden Entscheid hat uns weder der Vater noch die Tochter angegeben, mehr durch einen Zufall sind wir bei Wenzels Hinterlassenschaft (einem Koffer voller Bücher und Papiere), auf einen Brief gestossen, der uns direkt in diese Geschichte hineingeführt hat. Bis Anna zwanzig Jahre alt war, fanden sich im Hause de Leon an die zwanzig Bewerber ein, die alle beim nun einsichtig gewordenen Vater um die Hand seiner Tochter anhielten. So sehr hatte sich die Schönheit der jungen Anna herumgesprochen. Der eine oder andere Bewerber muss darunter gewesen sein, der dem Vater gefallen hätte, der Tochter freilich gefiel kein einziger. Nebenbei hat Doña Anna begonnen Tagebuch zu führen und offenbar auch zu malen. Allerdings wollte sie uns keine Resultate ihrer Kunst zeigen, oder dann hat sie die Bilder bereits wieder zerstört. Von Wenzel wissen wir, dass sie ihre Briefe, in immer kürzer werdenden Abständen, verbrannt hat. Es ist also durchaus möglich, dass auch keine Gemälde mehr existieren. In all diesen Jahren scheint Doña Anna in Toboso regelrecht verloren gewesen zu sein. Wir wissen nichts aus dieser Zeit. Sie taucht erst wieder auf, als sich ihr Weg mit demjenigen Franz Wenzels kreuzt. Zu diesem, man ist versucht zu sagen, schicksalshaften Ereignis, liegen uns einige widersprüchliche Fakten vor. So gibt es einerseits die Beschreibungen Wenzels, die wir an anderer Stelle bereits ausführlich zitiert haben, und dann weiter einen Tagebucheintrag Doña Annas, den sie Wenzel später, auf der Rückseite einer Ansichtskarte, gegeben haben muss. Sie schreibt: «Vater stellte mir einen gewissen Wences, oder so ähnlich, vor. Ein seltsamer Mensch irgendwo aus dem Norden, Tengossa, glaube ich, hat er gesagt. Er hat andauernd geredet und in einem fehlerhaften Spanisch die kuriosesten Geschichten erzählt. Ich mochte gar nicht mehr zuhören und wollte ihn stehenlassen. Aber er ist mir immer nachgegangen. Vater lud ihn zu uns nach Hause ein.» Wenzel legte diese Karte in eines seiner Notizbücher und notierte dazu: «es stimmt schon, dass mein spanisch fehlerhaft war. dass diese frühlingskönigin aber meine geschichten kurios nannte, ist doch seltsam, oder dann war mein spanisch wirklich mehr als nur fehlerhaft: denn ich habe den ganzen abend von nichts anderem als von ihrer schönheit gesprochen.» Offenbar muss Doña Anna die Kuriosität von Franz Wenzels Geschichten dann doch noch verstanden haben, denn schliesslich, und hier kommt nun (verspätet) der Einfluss Don Gabriels zur Wirkung, haben Doña Anna und Don Francisco nur vier Wochen nach dieser Jahresversammlung und Frühlingsköniginnenwahl in Toboso geheiratet. Wie Doña Anna diesen «seltsamen Menschen» in nur vier Wochen so gut kennengelernt hat, dass sie seinen Heiratsantrag annahm, bleibt schleierhaft, vor allem, wenn wir uns vor Augen führen, wie konsequent ablehnend sie bisher auf jede Werbung reagiert hatte. Die Aufzeichnungen, die Franz Wenzel in diesen Tagen beginnt, geben über den weiteren Verlauf der Beziehung und Ehe mit Doña Anna keinen wirklichen Aufschluss. Er schrieb in hochtrabendem Ton über alles was ihn beschäftigte, verstand es aber jederzeit, seine Aufzeichnungen so vage und verschlüsselt zu halten, dass keine Auskünfte aus diesen Notizen brauchbar sind. Doña Annas Tagebücher aus dieser Zeit müssen als verschollen (oder zerstört) gelten. In einem Gespräch nach Wenzels Tod, hat Doña Anna weniges über ihre Beziehung zu Wenzel preisgegeben. Sie erzählte, dass sie Wenzel wegen seiner Geschichten geliebt habe, denn «er hat die Gabe gehabt die verrücktesten Geschichte so lebensecht und wirklichkeitsnah zu erzählen, dass man ihm jeden Blödsinn abgenommen und für wahr genommen hat.» Seine erfundenen Personen seien so «lebendig und nah» gewesen, dass man geglaubt habe, sie vom Markt oder aus der Kirche zu kennen. Die Person Franz Wenzels lernte sie erst allmählich kennen. «Ich kannte den Mann nicht, den ich geheiratet habe», sagte Doña Anna. «Er hat sich mir vorgetäuscht.» Ihren Entscheid, Wenzel zu heiraten hat sie nie bereut, selbst dann nicht, als Wenzel nach nur zwei Ehejahren zu seiner letzten Reise aufbrach. Sie hätten jederzeit ein selbständiges, wenn auch nie einsames, Leben geführt. Sie sei deshalb auch nicht erstaunt gewesen, dass ihr Mann allein zu einer Reise aufbrechen wollte. Nur dass er auf dieser Reise niemals erreichbar gewesen sei, habe sie stutzig gemacht, und sie habe deshalb auch das schlimmste befürchtet. Was die Biografie Doña Anna de Leons betrifft, müssen wir uns also vor allem mit Andeutungen zufriedengeben und dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass Doña Anna eines Tages ihr Schweigen brechen und uns Einblick in ihr Denken geben wird.
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