Doña Anna de Leon: Eine biografische Skizze
von Matthias Kuhn

 

 

Das Leben Doña Annas liegt, bevor wir sie in Toboso, im unschuldig verführerischen Gewand der Frühlingskönigin, zum ersten mal zu Gesicht bekommen, einerseits aufgrund mangelnder Auskunftsbereitschaft, andrerseits aber auch aufgrund einer schlechten Dokumentation, weitgehend im Dunkeln.
Weil wir uns für das Leben Franz Wenzels interessierten, sagte Doña Anna, hätten wir nicht das Recht (und allerdings auch nicht die Pflicht), uns für ihre eigene Biografie zu interessieren. Ihrer Aussage nach, habe ihr eigenes Leben bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie Wenzel in Toboso auf dem Frühlingsfest der CELES getroffen habe, nichts mit seiner Biografie zu tun. Und ihr liege nichts daran, zwei Leben, die sich lange fremd gewesen seien, nachträglich zu vermischen.
Einiges ist uns nun aus den spärlichen Notizen Wenzels, anderes von ihrem Vater, Don Gabriel Ponce de Leon, zur Kenntnis gebracht worden. Ein Onkel Raùl (ein lange Zeit vergessener Bruder der Mutter Annas) und eine alte Tante Teresa (die Schwester Don Gabriels), die noch heute in Toboso lebt, haben uns einige Anekdoten aus Annas Jugend erzählen können. Alles in allem liegen uns aber nur einige spärliche Bruchstücke ihres Lebens vor.

Anna de Leon wurde in Toboso als Tochter des Kaufmanns Don Gabriel und der Doña Isabel, geborene de Vargas, am Morgen eines sonnigen Frühlingstages geboren. Sie schrie nicht, sie gab keinen Laut von sich und erregte sofort die Sorge der Ärzte und Eltern. Nachdem sie anfänglich zu leicht war und auch nicht den Plänen der Ärzte gemäss zunehmen wollte, entwickelte sie sich später rasch und zur Freude ihrer Eltern. Ihr erstes Wort sei das verfälschte katalanische potok, Pferd, gewesen. An ihrem ersten Schultag habe sie die Lehrerin, als diese mit den Kleinen habe singen wollen, aufgefordert, nun endlich zur Sache zu kommen. So oder ähnlich erzählte ihr Onkel Raùl, der Anna stets seine Lieblingsnichte nannte.
Als Ironie des Schicksals bezeichnete es ihr Vater, dass Anna ihre grosse Freude am Gesang entdeckt habe und folglich auch während ihrer ganzen Kindheit und Jugend Gesangsstunden nahm. Wahrscheinlich führten aber ihre häufigen Auftritte auf Familienanlässen und Dorffestlichkeiten letztlich dazu, dass die Jugendliche Anna die Bildung ihrer Stimme zu vernachlässigen begann und schliesslich ganz aufhörte zu singen.

Die Aufgabe dieser wichtigsten Beschäftigung hängt vielleicht aber auch mit einem andern Umstand zusammen. Im Alter von fünfzehn Jahren, zu grosser jugendlicher Schönheit erblüht, verbrachte Don Gabriel seine Tochter, ohne Vorankündigung und gewissermassen über Nacht, in die Nachbarstadt in ein Kloster unter die Obhut der Ordensschwestern. Den wahren Grund für diesen einschneidenden Entscheid hat uns weder der Vater noch die Tochter angegeben, mehr durch einen Zufall sind wir bei Wenzels Hinterlassenschaft (einem Koffer voller Bücher und Papiere), auf einen Brief gestossen, der uns direkt in diese Geschichte hineingeführt hat.
«Liebste Leandra, meine Augen werden blind, wenigsten können sie keinen Gegenstand finden, der ihnen erfreulich schiene. Meine Traurigkeit ist grenzenlos, solange du bei den Schwestern eingesperrt bist. Ich werde dich befreien und wir ziehen hinaus in das Tal, wo ich die zahlreichen Schafe hüten werde, wo wir ein Leben unter den Bäumen führen werden. Zusammen werden wir singen.»
Diese Worte schrieb der jugendlich verliebte Anselmo an seine Geliebte Leandra, die natürlich niemand anders gewesen ist, als unsere Anna. Vor Anselmo muss Don Gabriel seine Tochter denn auch versteckt haben. Dies gelang ihm allerdings nicht, wie der Brief ja hinlänglich beweist. Anselmo befreite Anna wirklich aus der klösterlichen Gefangenschaft. Selbstverständlich wurde aber nichts aus den Träumen von seinem ländlichen Idyll mit seiner Jugendliebe. Denn Anna lief wenige Tage nach der Befreiung in Toboso ihrem Vater in die Arme, der sie mit nach Hause nahm und dort abermals einsperrte. Dabei liess er es allerdings nicht bewenden: Er verklagte Anselmo der Ver- und Entführung seiner Tochter, die Gendarmerie des Ortes nahm den armen Jungen fest und dieser musste drei Tage und Nächte in Haft bleiben, bis man bewiesen hatte, dass der Haupttäter der eifersüchtige Vater selbst und nicht der kopflose Liebhaber war.

Bis Anna zwanzig Jahre alt war, fanden sich im Hause de Leon an die zwanzig Bewerber ein, die alle beim nun einsichtig gewordenen Vater um die Hand seiner Tochter anhielten. So sehr hatte sich die Schönheit der jungen Anna herumgesprochen. Der eine oder andere Bewerber muss darunter gewesen sein, der dem Vater gefallen hätte, der Tochter freilich gefiel kein einziger.
Don Gabriel gab schliesslich seine Bemühungen auf und liess seiner Tochter ihren Willen. Denn diese hatte längst beschlossen ledig zu bleiben, zu dumm, zu eitel und eingebildet kamen ihr die Bemühungen der Männer vor. Einzig den nach Toboso zurückgekehrten Anselmo traf sie noch einige male, bevor dieser endgültig nach Toledo auswanderte, um dort seinen ruhmvollen Aufstieg als Schmied, der er inzwischen geworden war, weiter zu betreiben.
Doña Anna selber muss in dieser nun folgenden Zeit den einst grossen und betriebsamen Haushalt der de Leons geführt haben. Einzig ihr Vater war noch im Hause zurückgeblieben. Ihre Mutter war schon vor Jahren an den Folgen einer nie ganz ausgeheilten Lungenentzündung gestorben.
Ab und zu, das erzählte uns Doña Teresa, hätten freilich hohe Herren im Hause der de Leons logiert. Wer diese hohen Herren gewesen sind und welche Gründe sie nach Toboso und ins Haus de Leon gebracht haben, können wir nicht mehr sagen. Doña Teresa glaubt zu wissen, dass es sich bei allen diesen Herren um begüterte Junggesellen aus dem ganzen Land gehandelt habe, und dass Anna nur zu dumm und kurzsichtig gewesen sei, um nicht einen von ihnen zum Mann genommen zu haben. Es gebe kein Mädchen in der ganzen Mancha, so Doña Teresa, die ein solches Angebot an heiratsfähigen Männern vorgeführt erhalten, und sich dabei gleichzeitig so unglaublich uneinsichtig aufgeführt habe.
Selbst nach diesen Angaben Doña Teresas lassen sich keine Zusammenhänge zum Beispiel zum Ehrenvorsitz Don Gabriels bei den CELES rekonstruieren, zumal das Amt des Ehrenvorsitzenden mit keinerlei Aufwand verbunden war, die die häufigen Herrenbesuche gerechtfertigt hätten.

Nebenbei hat Doña Anna begonnen Tagebuch zu führen und offenbar auch zu malen. Allerdings wollte sie uns keine Resultate ihrer Kunst zeigen, oder dann hat sie die Bilder bereits wieder zerstört. Von Wenzel wissen wir, dass sie ihre Briefe, in immer kürzer werdenden Abständen, verbrannt hat. Es ist also durchaus möglich, dass auch keine Gemälde mehr existieren.

In all diesen Jahren scheint Doña Anna in Toboso regelrecht verloren gewesen zu sein. Wir wissen nichts aus dieser Zeit. Sie taucht erst wieder auf, als sich ihr Weg mit demjenigen Franz Wenzels kreuzt. Zu diesem, man ist versucht zu sagen, schicksalshaften Ereignis, liegen uns einige widersprüchliche Fakten vor. So gibt es einerseits die Beschreibungen Wenzels, die wir an anderer Stelle bereits ausführlich zitiert haben, und dann weiter einen Tagebucheintrag Doña Annas, den sie Wenzel später, auf der Rückseite einer Ansichtskarte, gegeben haben muss. Sie schreibt: «Vater stellte mir einen gewissen Wences, oder so ähnlich, vor. Ein seltsamer Mensch irgendwo aus dem Norden, Tengossa, glaube ich, hat er gesagt. Er hat andauernd geredet und in einem fehlerhaften Spanisch die kuriosesten Geschichten erzählt. Ich mochte gar nicht mehr zuhören und wollte ihn stehenlassen. Aber er ist mir immer nachgegangen. Vater lud ihn zu uns nach Hause ein.» Wenzel legte diese Karte in eines seiner Notizbücher und notierte dazu: «es stimmt schon, dass mein spanisch fehlerhaft war. dass diese frühlingskönigin aber meine geschichten kurios nannte, ist doch seltsam, oder dann war mein spanisch wirklich mehr als nur fehlerhaft: denn ich habe den ganzen abend von nichts anderem als von ihrer schönheit gesprochen.»

Offenbar muss Doña Anna die Kuriosität von Franz Wenzels Geschichten dann doch noch verstanden haben, denn schliesslich, und hier kommt nun (verspätet) der Einfluss Don Gabriels zur Wirkung, haben Doña Anna und Don Francisco nur vier Wochen nach dieser Jahresversammlung und Frühlingsköniginnenwahl in Toboso geheiratet. Wie Doña Anna diesen «seltsamen Menschen» in nur vier Wochen so gut kennengelernt hat, dass sie seinen Heiratsantrag annahm, bleibt schleierhaft, vor allem, wenn wir uns vor Augen führen, wie konsequent ablehnend sie bisher auf jede Werbung reagiert hatte.
Don Gabriel erzählt nur, dass die beiden nach dem ersten Besuch Wenzels in ihrem Haus Tag für Tag mit langen Spaziergängen in der Gegend von Toboso verbracht, lange Frühlingsnachmittage im Garten, unter den Lauben, geplaudert hätten und dass er selbst, als die beiden ihm die bevorstehende Hochzeit ankündigten, höchst erstaunt gewesen sei, natürlich aber sofort eingewilligt habe, schliesslich sei ihm nach all den verpassten Gelegenheiten seine Tochter zu verheiraten beinahe jeder einigermassen anständige Bewerber recht gewesen.
Eine Begebenheit hat Don Gabriel sich dann aber doch noch in Erinnerung rufen können, er hat sie unter Lachen erzählt: Eines Abends, Doña Anna war nicht im Hause, hat der Hausherr Wenzel belauscht, der im Garten unter dem blühenden Oleander sass. Wenzel habe furchtbar gestöhnt und offenbar gelitten und flehentlich gesprochen: «O du Gebieterin meiner Handlungen und Gedanken, leuchtende und unvergleichliche Doña Anna de Leon! ist es möglich, dass die flehentlichen Bitten dieses deines glücklichen Liebhabers dein Gehör erreichen, so flehe ich bei deiner unerhörten Schönheit, dass du ihn hören mögest: denn ich flehe dich nur an, dass du mir deine Hilfe und deinen Beistand nicht entziehen mögest, die ich jetzt nötig brauche.» Don Gabriel sagt, er sei erschrocken gewesen über dieses Gezeter, dass Wenzel vollführt habe. Schliesslich habe er ihn aber als Poeten und deshalb als harmlos eingestuft und beurteilt und auch seiner Tochter nichts über diese wehleidige Rede erzählt.

Die Aufzeichnungen, die Franz Wenzel in diesen Tagen beginnt, geben über den weiteren Verlauf der Beziehung und Ehe mit Doña Anna keinen wirklichen Aufschluss. Er schrieb in hochtrabendem Ton über alles was ihn beschäftigte, verstand es aber jederzeit, seine Aufzeichnungen so vage und verschlüsselt zu halten, dass keine Auskünfte aus diesen Notizen brauchbar sind. Doña Annas Tagebücher aus dieser Zeit müssen als verschollen (oder zerstört) gelten.

In einem Gespräch nach Wenzels Tod, hat Doña Anna weniges über ihre Beziehung zu Wenzel preisgegeben. Sie erzählte, dass sie Wenzel wegen seiner Geschichten geliebt habe, denn «er hat die Gabe gehabt die verrücktesten Geschichte so lebensecht und wirklichkeitsnah zu erzählen, dass man ihm jeden Blödsinn abgenommen und für wahr genommen hat.» Seine erfundenen Personen seien so «lebendig und nah» gewesen, dass man geglaubt habe, sie vom Markt oder aus der Kirche zu kennen. Die Person Franz Wenzels lernte sie erst allmählich kennen. «Ich kannte den Mann nicht, den ich geheiratet habe», sagte Doña Anna. «Er hat sich mir vorgetäuscht.» Ihren Entscheid, Wenzel zu heiraten hat sie nie bereut, selbst dann nicht, als Wenzel nach nur zwei Ehejahren zu seiner letzten Reise aufbrach. Sie hätten jederzeit ein selbständiges, wenn auch nie einsames, Leben geführt. Sie sei deshalb auch nicht erstaunt gewesen, dass ihr Mann allein zu einer Reise aufbrechen wollte. Nur dass er auf dieser Reise niemals erreichbar gewesen sei, habe sie stutzig gemacht, und sie habe deshalb auch das schlimmste befürchtet.
Zu ihrer Vergangenheit befragt, gab Doña Anna sehr ausweichend Auskunft. Immerhin bestätigte sie die Vermutung, dass ihre Malereien nicht mehr existierten. «Sie gehörten zu einem Lebensabschnitt, den ich mit der Zerstörung dieser Bilder abgeschlossen habe.» Über die Beziehung zu ihrem Vater und dem jugendlichen Anselmo hüllte sie sich in geheimnisvolles Schweigen.

Was die Biografie Doña Anna de Leons betrifft, müssen wir uns also vor allem mit Andeutungen zufriedengeben und dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass Doña Anna eines Tages ihr Schweigen brechen und uns Einblick in ihr Denken geben wird.
Ganz Unrecht hat sie allerdings nicht, wenn sie sagt, dass man sich über ein plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit gerücktes Leben immer zu viele Vorstellungen mache und eine solche Biografie wie die ihre demzufolge versuche aufzubauschen und nach Andeutungen und Hinweisen abzusuchen, wo nichts als ein einfaches, und vielleicht bedeutungsloses, Leben sei und eines Tages ein einfacher Tod.

 

 

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