19940122 betrifft von wegen wolken

mein lieber steinweg

 

 

o la la la: du wehst mir da ganz schön um die ohren mit dem ganzen schreiben von wegen weltliche gepflogenheiten und dann von wegen wolken. wie die wolken am himmel fahren und wie schnell sie vorwärtskommen und wie schnell ein regentropfen fällt, mon dieu, das ist doch eine wunderbare betrachtung, eine poetische weltschau, eine sicht auf die welt durch die natur, möchte sagen, die welt und der mensch gesehen als teil der natürlichen natur. diesen winkelzug beherrscht noch ein jeder ländliche lyrikherr, sage ich und rufe erzürnt: du sagst du sprichst von profanerem als von realität und irrealität! ich lache: du schreibst zwar zuerst über das wetter, doch kann ich nicht glauben, dass du nicht weisst worüber du eigentlich sprichst. du betreibst eine eigentliche soziologie, und die alles andere als profan: du klassifizierest die wolken und beobachtest sie auf ihrem wege, du missest ihre geschwindigkeit und schauest wohin sie eilen und fliegen. ich sage dir worüber du sprichst: zwar nennest du den menschen nicht zirrus und nicht kumulus, aber mit diesen namen stellst du ihn vertretend dar und beschreibst ihn als teil seiner gesellschaft, zeichnest den kühnen emporkömmling ebenso wie den jungen spring-ins-feld, beschreibest den satten bürger und den aufmüpfigen arbeitherr der sich gleichgesinnte sucht und ausschreitet zur tat, zur revolution. du beschreibst den regentropfen und glaubst du schreibst über ein phänomen der natur! ich sage dir: in diesem regentropfen wohnt eine grosse weisheit, wie er aus dem urgrund der erde steigt, sich mit seinesgleichen zusammentut, solange sich sammelt mit gleichgesinnten, bis die spannung nicht mehr auszuhalten ist und er mit ihnen allen losplatzt und zur erde zurückfällt, dorthin zurück allwo er hergekommen ist (bis es soweit ist, hat er freilich manches durchgemacht). du schreibst: auch laben kann man sich an ihm. freilich, nur was heisst laben? du schreibst, er luge geläutert aus dem gestein hervor. das stimmt, doch was ist geläutert? in dem punkte, in dem du sagst, man solle ihm nichts sagen, ansonsten er übermütig werde, darin hast du vollkommen ins schwarze getroffen! darum wiederhole ich deine worte, wenn ich am feuer sitze: stille, stille, seist du, abendruh!

> wie du zum schluss deines schreibens bemerkst, ich sei nun wohl auf den urlaub eigentlich gut vorbereitet, weiss ich nicht, was ich denken soll: denn dieses ist mein eigentliches ansinnen und auch mein eigentliches problem. wie kann man sich auf eine reise, wie sie die nach südwestfrankreich ist, genügend vorbereiten. wie wir vom siegfried lenz wissen [1], dessen amadeus loch, der doch nur von goronzä gora nach oletzko reisen musste, will eine reise gut vorbereitet sein, zumal die reise ins ausland führt, wo eine andere sprache als die unserer mütter gesprochen wird, wo ein anderer könig herrscht, als der unsere. ich meine nicht, dass wir, bildlich gesprochen, gleich zum bruder unserer frau, paul popp, rennen müssen, um ihn zu bitten mitzukommen, aber immerhin müssen wir, und das ist schliesslich die profanste aller überlegungen, wissen was zu tun ist, in dem falle einer abreise an einen fremden ort. wie es uns in ähnlichen fälle ergangen ist, soll uns lehren, mit dem gegenwärtigen fall umzugehen, und ich meine, dass wir am besten versuchen sollten, das problem, jenes der ab- und anreise nach frankreich, mit möglichst vielen worten einzukreisen und abzuhandeln, weil dann im schwall der worte und ideen die lösung von selbst auftauchen wird. ich hoffe die methode kommt auch dir entgegen, lieber freund. mit den herrlichsten grüssen (und bis sonntag): wenzel

 

 

 

[1] wie wir vom siegfried lenz wissen. Franz Wenzel spielt auf die Erzählung «Die Reise nach Oletzko» von Siegfried Lenz an. Erschienen im Erzählband «So zärtlich war Suleyken». [zurück zum Text]

 

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