19940129 betrifft sturzstart

lieber wenzel

 

 

es ist dann doch nicht so einfach sich zu entscheiden zwischen einem start und einem sturz. schon gar nicht des verderbens wegen. das dann doch nicht. nur frage ich mich vor laufender kamera und sozusagen on record, was die ganze fragerei per definitionem eigentlich soll. denn für eine dauer von zwei wochen ferien, denke ich, ist die sturzfrage geradezu irrelefant. ein sturz kommt in frage, wenn es sich um eine längere zeit handelt, so verstehe ich dich. um einen exodus. ein ausscheren aus dem trott der sich alltag nennt, das verlassen von heim, hof und haus. da die zwei wochen aber relativ kurz sind, wenn wir ehrlich bleiben wollen, denke ich, dass ein start wohl eher in betracht gezogen werden kann. nun. du hast schon recht. er soll recht vorbereitet sein und stämmig durchgeführt. und er ist auch ein ausdruck für die freude gegenüber der nahen zukunft. schon weil er in sich dauert. als ein ding von gedanklichem entwerfen gegenüber der zeit, die kommen wird. das alles sehe ich ein und es erfüllet auch mich mit goggeligoh. der sturz andererseits hat auch sein gutes. nehmen wir das beispiel der fallschirmspringer. der parachutistes, wie die franzmannen zu sagen pflegen. sie denken wohl auch nicht ans verderben. wenn sie den flug von oben betrachten. den sturz als solchen. von anfang an genommen. und in einem flugzeug, das kann man ihnen unterstellen, fühlen sie sich örtlich wohl, nicht etwa am falschen platz. sie sind an einem ort zwar, von dem sie fortkommen wollen. trotzdem: sie tuns doch immer wieder und steigen ein, in diese unheilverkündenden stahlrohre mit brettern an der seite. sie zwängen sich zusammen und kauern auf dem boden, bis dann auf viertausend metern die luken geöffnet werden. dann singen sie: ready, set, go und tauchen ab. sie stürzen förmlich. und sie wissen, dass ihr ziel der weg ist, ein schneller, schnurgerader und unwiederbringlicher mit nur einem ziel: nach unten. und man könnte sagen, dass dies ein verkörperter sturz der ersten ordnung ist, was denn sonst. das ziel dann empfängt sie mit langeweile. mit langgestreckten hälsen der neugierigen und mit missgunst ihrer freunde, die demselben tun zu frönen pflegen und die eifersüchtig sind, sich nicht in derselben lage zu befinden, just in demselbigen moment. nun also. dann falten sie ihre hilfsmittel fachgerecht zu einer wurst, welche sie dann zusammenrugelen, damit sie wieder in den sack passt, der sie wieder und wieder mit nach oben und unten begleitet. sie kennen kein mass. und sie stürzen. bei uns ist das etwas anderes. wir würden dem parachutist gleich auch immer und immer wieder freiwillig uns ins frankenland stürzen, wenn wir nur so könnten. und notabene am selbigen tag bis zu siebenmal. immer und immer wieder unsere sachen wursteln und rugelen. um zu stürzen. kopflos sozusagen. als wie wenn der weg allein freude machen würde. aber aus wirtschaftlichen überlegungen bleiben wir beim start. weil wir uns den täglich mehrfach erfolgenden sturz nicht leisten können. wir müssen also starten. langsam und überlegt starten. und deshalb sind wir auch freier als die fallstürzer. denn eine vergessene batterie für die taschenlampe können wir ersetzen. sozusagen im flug. "une pile, svp", sagen wir in frankreich. und schon haben wir eine vergessene sache im griff. auch mit anderen dingen gehts gleich. und es funktioniert. die parachutistes habens eilig, wenn was fehlt. zweihundert stundenkilometer nach unten sind kein klacks. nun was willst du. ich akzeptiere den start als form der möglichkeit, die uns zusteht. als einer gemütlichen form der fortbewegung. also, mein freund. los gehts. 1 gruss. steinweg

 

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