Gibt es ein Urlaubsleben nach Sedrun?

Von Andreas Vogel

 

Ich konnte immer behaupten, im Ausland Urlaub gemacht zu haben. Immerhin. In einem gewissen Alter ist so etwas wichtig. Bei mir begann es mit etwa sechs Jahren wichtig zu werden, vielleicht auch mit sieben. Jedenfalls war es nach dem ersten Schuljahr, besser, nach den ersten Sommerferien, die dem ersten Schuljahr folgten. Ich verbrachte diese Ferien vier lange Wochen lang in Sedrun. Sedrun, jenem wunderbaren Wintersportort für Anfänger und Grossfamilien, den man offenkundig auch im Sommer besuchen konnte. Auch für vier Wochen. Alles eine Frage des Willens - nach dem ich im übrigen nicht gefragt wurde.

Ich will nicht dramatisieren. Es war eine klasse Zeit in Sedrun. Da gab es Berge, Bäche, Kühe, Bauern, komische Kleinsttraktoren die aussahen wie umgebaute Rasenmäher, es gab Heu, Sonne, ein Schwimmbad (allerdings in der Halle, schliesslich besuchten wir einen Wintersportort), es gab Brunnen, Blaubeeren und manchmal haben wir sogar kleine Bergkristalle gefunden. Wirklich klasse. So wie all die folgenden Jahre auch.

Immerhin, Sedrun lag im Ausland. Von Konstanz aus gesehen. Wenngleich niemand in Konstanz die Schweiz als richtiges Ausland ansah, dessen Eltern Kaffee, Schokolade, Nudeln und groben Pfeffer in der Migros einkauften. Und das taten dummerweise sämtliche Eltern all meiner Klassenkameraden. Das lernte ich bereits nach diesen ersten Sommerferien. Und ich lernte, dass eines jeden Urlaubs Güte letztlich von der Anerkennung anderer lebt. Weiter lernte ich, dass Sedrun nicht nur in der benachbarten Schweiz lag, das nicht als Ausland galt, nein, es war auch nicht in Dierckes Weltaltlas zu finden und damit inexistentes Urlaubsgebiet. Ein Urlaub, der folglich keiner war, keiner sein konnte. Ein harter Schlag, mit sieben, auch mit acht, neun, zehn, elf und später mit zwölf Jahren. Es gab noch nicht einmal irgendeinen skifahrenden Mitschüler, der hätte einspringen können, um sich für die Existenz Sedruns zumindest für die Wintermonate zu verbürgen. Aber letztlich war das wohl auch gut so, denn der Spott hätte sich potenziert, hätte dieser jemand berichten können, dass Sedrun eigentlich das hinterletzte Scheisskaff sei, wo man ausser Skifahren nichts, aber auch gar nichts machen könne. Und Skifahren, das wäre allen klar gewesen, Skifahren fand im Sommer nicht statt.

Wovon sich der Spott der anderen Mitte der 70er Jahre nährte, das waren die Urlaubsziele dieser anderen. Freilich, auch deren Ziele waren Dörfer. Doch waren die Namen dieser Dörfer nebensächlich, wurden sie doch überstrahlt von übergeordneten Zielbegriffen wie Adria, Côte d'Azur, Atlantik. Das war das wahre Ausland, das Ausland, dessen Sprache man nicht verstand, das Ausland sonderbarer Speisen, die damals noch nicht in jedem Tiefkühlregal zu finden waren, das war das Ausland der weiten Autofahrten, fremder Währungen, hoher Temperaturen. Und was bot Sedrun? Den Schweizer Franken, Räteromanisch, keine drei Stunden Anreise, Temperaturen knapp über Nachtfrost und Ziegenkäse.

Natürlich verschlimmerte sich mein jährlicher Nachurlaubszustand durch die Tatsache, dass meine Familie trotz aller Proteste der Kinder - meiner Schwester ging es auch nicht besser - jeden Sommer auf's neue nach Sedrun fuhr. Irgendwann konnte ich es meinen Klassenkameraden nicht einmal mehr verübeln, dass sie mich gar nicht erst nach meinen Urlaubserlebnissen fragten. Was hatte ich schon zu erzählen, was sie von früheren Erzählungen - als sie mir diesbezüglich immerhin noch zugehört hatten - nicht schon kannten. Die Schmach hatte allerdings schon Wochen zuvor begonnen. Bereits vor den Ferien entstand jeweils eine klassenübergreifende Spannung wie vor dem weihnachtlichen Wohnzimmer, wenn Vatern den Baum schmückte, den Wattebart anklebte und ein kleines Glöckchen die Erstürmung des Geschenkhügels freigab. Wer würde wohin fahren? Wer war dort schon einmal gewesen? Wer hatte den weitesten Weg zurückzulegen? Und, an Prestigträchtigkeit nicht zu überbieten: Wer würde gar fliegen?

Es waren die Jahre, in denen ich jede Hoffnung aufgab, jemals in den Urlaub fliegen zu können. Die Möglichkeit, Sedrun könne einen Flugplatz erhalten war einfach zu absurd! Immerhin sind wir manchmal mit zwei Autos gefahren. Für vier Wochen braucht man ja doch so einiges. Und je häufiger man ein und denselben Ort besucht, desto mehr kann man den Aufenthalt perfektionieren, desto weniger muss man dem Zufall überlassen.

Um es an dieser Stelle anzumerken, wir besassen nicht etwa ein Ferienhaus in Sedrun. Weit gefehlt. Wir wohnten auf dem Bauernhof der urigen Familie Monn - so hiessen dort irgendwie alle. Die Monns waren uns zwar gewogene Gastgeber, konnten mir jedoch nicht das Gefühl nehmen, uns für komplett bescheuert zu halten. Das galt vor allem für die unzähligen etwas älteren Kinder, die alles taten, um einen Nachmittag in Disentis zu verbringen und für die Aufenthalte in Flims oder gar Chur Paradieseszuständen gleichkamen. Für sie musste es zwangsläufig an Idiotie grenzen, dass eine Familie Jahr um Jahr an genau dem Ort ihren Sommerurlaub verbrachte, dem sie mit aller Macht zu entfliehen suchten. Die Kontakte waren entsprechend herzlich.

Glücklicherweise haben sich meine Eltern dann irgendwann scheiden lassen. Fortan wurden Orte gemieden, die zuvor im noch trauten Familienkreise besucht worden waren. Die Rettung schien nah, wenngleich sie mit fortan regelmässigen Besuchen am Steinhuder Meer nördlich von Hannover nicht wirklich den erhofften Umschwung mit sich brachte. Aber das gehört eigentlich nicht hierher. Viel schlimmer war, dass meine Mutter irgendwann registrierte, dass Sedrun ja nur als Aufenthaltsort während der Sommerferien familienbefleckt war. So folgte, was unweigerlich folgen musste: Mit zwölf Jahren fuhr ich nach Sedrun, um dort Skifahren zu lernen. Diese Gelegenheit habe ich sofort am Schopfe gepackt: Wenn ich mich jemals in meinem Leben dumm gestellt habe, dann beim Hinunterpflügen der schneebedeckten Sedrunder Hügellandschaft. So dumm, dass es bis auf die Berge hinauf gar nicht erst gereicht hat.

So gelang, dass dieser Winterurlaub mein überhaupt letzter Urlaub in Sedrun wurde.

Mittlerweile bin ich sogar schon in den Urlaub geflogen, habe das jahrelang so sagenumwogen scheinende Mittelmehr gesehen, war gar in anderen Kontinenten unterwegs. Sedrun ist mir freilich geblieben. Weniger als realer Ort, denn als ein Urlaubszustand, der mit ganz anderen Wertevorstellungen konfrontiert, als gemeinhin erwartet wird. Nur so konnte geschehen, was zwangsläufig geschehen musste: 20 Jahre später fuhr ich auf der Rückreise von Italien einen gigantischen Umweg, um meinem Sedrun-Komplex auf diesem Wege beizukommen. Es war rührend, dass die gebrechliche Frau Monn mich noch erkannte und durchs Haus führte. Der Empfang war herzlich - offenbar hatte es nie wieder so treue Urlaubsgäste gegeben wie uns.

Freilich hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits alles geändert. Auf dem Weg hatte ich feststellen müssen, dass wir in all den Jahren gar nicht wirklich in Sedrun gewesen waren: Surrein, ein kleiner Nebenort, wenige Häuser nur umfassen. Gerade genug, um eine eigenes Ortsschild zu bekommen. Dort war es, wo wir in Tat und Wahrheit all die Jahre Urlaub gemacht hatten.

Doch das wäre eine andere Geschichte.

 

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